"Die Wahrheit muss man sich zumuten"
Die Aufführung des Theaterstücks "Mädchen mit Hutschachtel" hinterlässt im "EpFi" Bestürzung und Bewunderung gleichermaßen.

Von Angela Portner
Eppingen. Der Mond stand groß und kalt über der Bühne des Figurentheaters, auf der es mit dem Gastauftritt der "Jungen badischen Landesbühne" (JBLB) ausnahmsweise ganz und gar nicht fröhlich zuging. Das Theaterstück "Mädchen mit Hutschachtel" erzählt die Geschichte einer jüdischen Familie aus Bruchsal. Lisa Sommerfeldt hat das Drehbuch anhand von Interviews, Gerichtsakten, Fotos, Briefen und anderen Zeitdokumenten akribisch recherchiert und daraus ein Stück gemacht. Bei den rund 40 Zuschauern hinterließ die Aufführung Bestürzung und Bewunderung gleichermaßen. Einer stillen Sekunde der Betroffenheit folgte lang anhaltender Beifall, der in begeisterten Bravo-Rufen mündete.
Kinderglück: Ein heimlich besuchter Jahrmarkt, ein Kettenkarussell, ein Stand mit Zuckerwatte und ein Kasperle, das gerade Besuch von Schneewittchen hat. Sieben Zwerge gehen einkaufen. Eine schneidend quäkende Stimme ermahnt: "Kauft nicht beim Juden!" Zu Hause fliegen faulige Äpfel durch die Scheibe des Wohnzimmers. Verlorene Freundschaften, Erniedrigungen, Hunger, leere Kinderaugen, mutlos herunterhängende Arme, ab und an ein sehnsuchtsvolles Kopfheben. Doch die geliebte Heimatstadt Bruchsal zeigt sich erbarmungslos mit hakenkreuzbeflaggten Straßenzügen und begeistert marschierender Hitlerjugend. Die Synagoge brennt, und überall schlagen den Kindern Hass und Häme entgegen.
"Die Juden werden jetzt abgeschoben, damit dieses arbeitslose Gesindel endlich mal schaffen lernt", sagt der Lehrer. Traurig stehen die Kinder mit ihrer Mutter und Oma am Gleis und verabschieden den Vater nach Amerika. Man hofft, dass die Nazi-Schergen Frauen und Kindern nichts tun werden.
Ein Irrtum: Das Schicksal der Familie ist eine Aneinanderreihung beklemmender Grausamkeiten und schmerzhafter Brüche. Der kleine Heinz (Frederik Kienle) erfährt in den ersten Jahren Schutz in einem israelitischen Kinderheim. Seine Briefe werden in den Mond auf der schwarzen Leinwand projiziert. Ob er je den ersehnten Kuchen bekommt? "Ich habe noch nie einen gegessen", schreibt er.
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Im Mai 1944 brennen in Auschwitz die Kinderleichen. Hat er Disneys Schneewittchen noch gesehen, bevor man ihn ins Gas schickte? Belegt ist auch der Tod von Mutter Julie (Magdalene Suckow), die man von einem schrecklichen Lager zum nächsten schickte – Transporte, auf denen sie lernt, Toten die Augen zu schließen. Oma Mathilde (Vanessa Földing) stirbt, zerfressen von Körperwanzen, in Theresienstadt. Die 13-jährige Edith (Hannah Ostermeier) wird von einer Hilfsorganisation aus dem französischen Lager Rivesaltes befreit. Sie überlebt den Holocaust in der Illegalität verschiedener französischer Kinderheime und wohnt heute mit ihrer Familie in den USA. Anlässlich der Stolpersteinverlegung für ihre Familie besuchte sie 2017 Bruchsal, und die beiden Töchter waren bei der Uraufführung des Stückes 2022 dabei.
"Mädchen mit Hutschachtel" beeindruckt nicht nur wegen der erschreckenden Zeitzeugnisse, sondern auch mit starken Textbildern: Der Mond, der wie eine Sichel die schwarzen Wolken zerschneidet, Bahnhofsgleise, die das Sonnenlicht wie Klingen reflektieren, oder Schneewittchen auf der Barackenwand des Konzentrationslagers: "Spieglein, Spieglein an der Wand – was geschieht in diesem Land?"
Der dokumentarische Charakter des Stückes wird durch die mimisch und körpersprachlich starken Monologe der vier Darsteller deutlich. Das schnörkellose Bühnenbild von Tilo Schwarz reduziert sich auf kastenförmige, weiße Stühle und Archiv-Kisten. Aus ihnen werden immer wieder Dokumente genommen und auf die mondförmige Projektionsfläche der schwarzen Leinwand projiziert.
Der NS-Propagandafilm "Bruchsal judenfrei! – die letzten Juden verlassen Bruchsal" lieferte die Idee zum Theaterprojekt: Wer war das Mädchen mit der Hutschachtel, das in der Menge der zusammengetriebenen Menschen zu sehen ist? Autorin Lisa Sommerfeldt und Regisseurin Petra Jenni machten sich auf die Suche und fanden heraus, dass es sich um die in den USA lebende Edith Leuchter handelt. Sie nahmen Kontakt zu ihr und ihrer Familie auf. Sommerfeldt erklärte im Interview mit Jenni, dass die "widerlichen" Details ihrer Recherchen das "Unfassbare immer noch unfassbarer" gemacht hätten. Besonders die Schicksale der Kinder seien emotional nur schwer verkraftbar gewesen: "Aber die Wahrheit muss man sich zumuten."