Wie ein 13-Jähriger den Beginn des Zweiten Weltkriegs erlebte
"Die Atmosphäre war eher bedrückend" - Von Begeisterung hat Handschuhsheimer Heinz Markmann nichts gespürt

Rationierung und Luftschutz waren die großen Themen der Zeit kurz vor und kurz nach Kriegsbeginn: Im Rathaussaal wurden auf diesem undatierten Foto - wohl im August 1939 - die Bezugsscheine und Marken für Lebensmittel ausgegeben. Foto: Lossen
Von Philipp Neumayr
Heidelberg. Für meteorologisch interessierte Heidelberger birgt die morgendliche Zeitungslektüre am 2. September 1939 keine großen Überraschungen. "Das Wetter ist derzeit von einer für mitteleuropäische Verhältnisse seltenen Beständigkeit: Das Freitagswetter war kaum anders als das Donnerstagswetter, nämlich vormittags sonnig und klar, nachmittags bewölkt und schwül."
Doch während in Heidelberg am 1. September 1939 die Sonne aufgeht, legt sich Dunkelheit über den Kontinent. Knapp 900 Kilometer entfernt, vor der Freien Stadt Danzig, eröffnet an diesem Morgen das Schlachtschiff "Schleswig-Holstein" das Feuer auf polnische Befestigungen. Es ist der Auftakt für ein Massensterben bislang unbekannten Ausmaßes. Es ist der Beginn des Zweiten Weltkrieges.
Als der 13-jährige Heidelberger Heinz Markmann an diesem 1. September auf dem Weg zu seiner Oma ist, ahnt er nicht, dass dieser Tag ein schicksalhafter Tag für sich und die Weltgeschichte werden könnte. "Damals waren noch Ferien und ich zog mit meinem Leiterwägelchen von Handschuhsheim zum Schlossberg in die Altstadt, um meiner Großmutter frische Kohlen zu bringen", erinnert sich der heute 93-Jährige. Von Begeisterung über den Kriegsausbruch habe er nichts gemerkt. Im Gegenteil: "Die Atmosphäre war eher bedrückend."
Hintergrund
Was sich zum Kriegsbeginn in den Heidelberger Zeitungen findet
Der Beginn des Zweiten Weltkrieges schlug sich auch in den - damals nicht sehr umfangreichen - Lokalteilen der beiden in Heidelberg erscheinenden Zeitungen nieder: den "Heidelberger
Was sich zum Kriegsbeginn in den Heidelberger Zeitungen findet
Der Beginn des Zweiten Weltkrieges schlug sich auch in den - damals nicht sehr umfangreichen - Lokalteilen der beiden in Heidelberg erscheinenden Zeitungen nieder: den "Heidelberger Neuesten Nachrichten" und dem NSDAP-Blatt "Volksgemeinschaft". Auf der einen Seite, die den Nachrichten aus Heidelberg gewidmet war - ansonsten lag der Umfang meist bei 16 Seiten - ging es vor allen Dingen um zweierlei: Verdunkelung und Lebensmittelrationierung. Kein Hinweis auf Versammlungen, Kundgebungen oder Paraden - man weiß also nicht, wie die Heidelberger in den ersten Tagen nach dem Kriegsausbruch reagiert haben.
Bereits am 31. August, einen Tag vor dem Krieg, informierten die "Neuesten Nachrichten" über "Einzelfragen der Bezugsscheinpflicht". Auf "Marken" gab es pro Person "200 Gramm Fleisch oder Fleischwaren (auch in Konserven)". Dass Butter, Vollmilch und Öl bereits vorher knapp waren, erkennt man an dem Hinweis, dass die Geschäfte einfach ihre alten Kundenlisten weiter laufen lassen sollten.
Die "Volksgemeinschaft" informiert in ihrer Ausgabe vom 1. September 1939 über "Schnellkurse im Luftschutz" und fragt den Leser: "Hast du deine Selbstschutzgeräte schon bereit?" Bereits in der zweiten Nacht des Krieges, von Samstag auf Sonntag, fuhr, "auf Einladung der Polizei", ein Reporter der "Volksgemeinschaft" durch das nächtliche Heidelberg: "Die Häuserfronten lagen da in einem gespenstischen Schwarz. Man muss schon sagen: Die Heidelberger haben sorgfältig abgedunkelt." Der Artikel, erschienen am Mittwoch, 4. September, war gut vorbereitet: In der Ausgabe zuvor war "Das Thema des Tages: Ist der Luftschutz richtig durchgeführt?"
Ansonsten war auch viel Normalität in den Zeitungen zu finden: Das Musikhaus Hochstein schaltete wie gewohnt Anzeigen für "Radios sämtl. Fabrikate. Verlangen Sie unverbindl. Vorführung!" Die Kosmetikerin "Frau G. Burkholder-Klopp, ärztl. gepr." aus der Altstadt empfahl ihre Dienste: "Auch die stärksten Sommersprossen entferne ich unter Garantie, ebenso starke Falten in 2 Sitzungen". Im "Capitol"-Kino (Bergheimer Straße) kam zwar noch einen Tag vor Kriegsbeginn der Streifen "Flucht ins Dunkel", dessen Handlung im Ersten Weltkrieg spielte, aber ansonsten liefen - erst recht nach Kriegsbeginn - Filme zum Ablenken: Die Komödie "Gastspiel im Paradies" mit Hilde Krahl oder der Kunstfälscher-Krimi "Ich bin Sebastian Ott" mit Willi Forst - ebenso wie Krahl aus dem 1938 "angeschlossenen" Österreich und ein noch größerer Publikumsliebling. Und wer dann noch ausgehen wollte - zum Beispiel ins Café Arnold (Hauptstraße 37) - hatte zwei gute Gründe: "Jeden Abend Tanz! Trotz Verdunklung keine Unterbrechung!" (hö)
Ein anderes Bild vermittelt die Propaganda-Zeitung "Volksgemeinschaft", neben den "Heidelberger Neuesten Nachrichten" damals eine von zwei Heidelberger Zeitungen. "Mit Ernst und Entschlossenheit erlebte Heidelberg diesen 1. September!", heißt es im Lokalteil des Blatts. "In den Fabriken und Büros, in den Gaststätten, in allen Dienststellen war man um den Rundfunk versammelt. Auf den Straßen war es still: Es gab keinen unter uns, der sich nicht der geschichtlichen Größe dieser Stunde bewusst war."
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Der junge Markmann sitzt am Mittag dieses 1. September mit seiner Familie vor dem Radio, als die Stimme Adolf Hitlers durch den Volksempfänger dröhnt: "Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!"
80 Jahre später sitzt er in seinem Wohnzimmer in der Pfarrgasse und weiß nicht so recht, was er antworten soll auf die Frage, wie er diesen Moment empfunden habe. "Schwer zu sagen." Auf der einen Seite waren da die Erlebnisse des Vaters, der im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden war, der "den ganzen Körper voller Narben" hatte. Auf der anderen Seite dieser jahrelange Druck der Propaganda, der vormilitärische Drill beim "Jungvolk". "Ich habe das eben so hingenommen", sagt Markmann. "Jetzt war Krieg."
Dass nun andere Zeiten angebrochen waren, davon kündeten nicht nur die Volksempfänger in den Wohnzimmern und die Lautsprecher an den Straßenkreuzungen. "Es wurden Sandsäcke vor die Fenster gelegt. Keller wurden ausgeräumt, um Schlafplätze zu schaffen", sagt Markmann. Gleichzeitig seien Handfeuerspritzen verteilt worden. "Die mussten mit einem Eimer Wasser auf dem Speicher aufgestellt werden, falls Brandbomben abgeworfen werden."

Zeitungen, wie die "Volksgemeinschaft" informierten zudem über Verdunkelungsmaßnahmen. Dies bedeutete, "dass mit sofortiger Wirkung ab 19 Uhr jede Schaufensterbeleuchtung sowie Ladenbeleuchtung zu unterbleiben hat und das selbstverständlich auch keine Reklamebeleuchtung stattfinden darf". In jedem Wohnblock, erinnert sich Markmann, habe es einen Luftschutzwart gegeben.
"Der musste die Wohnungen kontrollieren, ob die Fenster mit schwarzem Papier und Holzlatten versehen waren." Nahrung wurde rationiert, mit Lebensmittelkarten. Für jedes Lebensmittel, sagt Markmann, sei ein kleiner Teil von der Karte abgeschnitten worden. "Es war von den Nazis alles bestens organisiert."
Im September 1939 ist Markmann "Jungenschaftsführer" beim "Deutschen Jungvolk", einer Jugendorganisation der Hitlerjugend für die Zehn- bis Vierzehnjährigen. Als 13-jähriger "Pimpf" hat er den Oberbefehl über die Jüngeren, bringt ihnen das Exerzieren bei. Später wird er zum "Jungzugführer" befördert, während seine älteren Freunde zum Militär eingezogen werden. "Vom Widerstand gegen den Krieg und das Regime habe ich nichts gemerkt", sagt er heute. "So ging es Millionen von Deutschen."
Welche Gräuel und Abgründe sich da eigentlich aufgetan haben, merkt Markmann erst später, als er mit 17 Jahren zur Flugabwehr-Einheit der Wehrmacht nach Mannheim kommt. "Da haben wir den Krieg richtig kennengelernt." Irgendwann treffen Bomben seine Batterie. Erstmals sieht er Verletzte und Tote.
Unterdessen werden die Lebensmittelrationen knapper, mehr und mehr Leute kommen angeschlagen oder überhaupt nicht mehr von der Front zurück. "Wir wussten nur: Wenn der Krieg verloren geht, geht’s uns ganz dreckig. Dafür hatte die Propaganda gesorgt."
Von der Flak wird Markmann an die Ostfront beordert, kämpft gegen Soldaten, die ihm die NS-Propaganda zuvor mal als Verbündete, mal als "Untermenschen" verkauft hatte. Auf dem Rückzug von der Front jagt ihm ein Soldat der Roten Armee eine Kugel ins Knie. "Dessen Kommandanten habe ich vorher erschossen, dann hat er zurückgeschossen."
Markmann rettet sich mit kaputtem Bein, beschädigter Schulter und gefrorenen Zehen ins Lazarett. Als ihn die Botschaft vom Kriegsende erreicht, habe er eigentlich nur eines empfunden. "Erleichterung." Das sei kein Krieg mehr gewesen, nur noch ein Abschlachten, sagt Markmann. "Ja, so war das."
"So war das" - immer wieder spricht er diese Worte aus, wenn er seine Erinnerungen wiedergibt. Hätten ihn damals nicht die Amerikaner, sondern die Russen gefangen genommen, dann hätte er diesen Krieg wohl nicht überlebt. Fragt man Markmann, wie der Krieg sein weiteres Leben bestimmt habe, erzählt er von der pazifistischen Erziehung seiner Kinder. Und er spricht von fehlender Angst. "Wenn Sie so etwas wie diesen Krieg erlebt haben", sagt er, "dann haben Sie keine Angst mehr."