Als Hitler Europa in Brand setzte

So begann vor 80 Jahren der Zweite Weltkrieg

Mit gezielten Lügen - Welche Lehren lassen sich heute daraus noch ziehen?

28.08.2019 UPDATE: 01.09.2019 06:00 Uhr 4 Minuten, 31 Sekunden
Adolf Hitler (M) besichtigt die eingenommene und zerstörte Westerplatte bei Danzig. Foto: dpa-Archiv (undatiert)

Von Harald Raab

Danzig. "Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen." Mit hysterisch sich überschlagender Stimme berichtete der Reichskanzler und Führer des Dritten Reiches, Adolf Hitler, in der Berliner Kroll-Oper, vor dem gleichgeschalteten Reichstag. Es ist der Vormittag des 1. September 1939. "Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen." Mit gleich mehreren Lügen beginnt der Zweite Weltkrieg.

Die Wahrheit ist: Nicht Polen hat Überfälle auf deutsches Reichsgebiet verübt. Die Angriffe - auf den Sender Gleiwitz, die Zollstation in Neukrug und in Hohenlinde - wurden inszeniert von Leuten des Sicherheitsdienstes der SS in polnischer Uniform. Es gab Tote. Die Leichen wurden in polnische Uniformen gesteckt und zurückgelassen. In Wahrheit waren dies ermordete KZ-Häftlinge. Hitler-Deutschland brauchte einen Vorwand, um ein militärisches Eingreifen vor der Weltöffentlichkeit rechtfertigen zu können.

Eine weitere Lüge Hitlers: Nicht erst um 5.45 Uhr, sondern bereits eine Stunde früher war die Wehrmacht zum Raubzug gegen Polen aufgebrochen. Und das mit erdrückender Übermacht: 1,8 Millionen Soldaten, 3000 Panzer, 2000 Flugzeuge. Der bis dahin massivste Militärschlag der Geschichte. Die Deutschen hatten den Krieg geplant und mit Präzision ins Werk gesetzt. Das kleine Nachbarland Polen hatte keine Chance.

So begann vor 80 Jahren der Zweite Weltkrieg, wenn man es nur aus europäischer Perspektive sieht. Die Japaner hatten schon viel früher ihre Kriegsmaschine gegen China angeworfen.

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Es wurde der größte und verheerendste Krieg der Menschheitsgeschichte. Nach neueren Schätzungen (unter Einbeziehung der Opfer in Südostasien) gab es 75 Millionen Tote, davon fast 50 Millionen Zivilisten. Es wurde auch der teuerste Krieg aller Zeiten: 1030 Milliarden US-Dollar, die Wiederaufbaukosten nicht eingerechnet. Und das sind nur die Kriegsausgaben der großen Player: USA, UdSSR, Deutsches Reich, Japan, Großbritannien und Italien.

40 Millionen Menschen wurden vertrieben oder verschleppt. Sechs Millionen Juden wurden ermordet. Deutschland verlor fast ein Viertel seines Territoriums. 30 Prozent der Bevölkerung hatte kein Dach mehr über dem Kopf. Zwölf Millionen Deutsche mussten ihre Heimat verlassen. Die Industrieproduktion lag 1945 nahezu bei Null. "Das alles verdanken wir dem Führer", hatten Bewohner der zerstörten Reichshauptstadt Berlin auf ein ausgehängtes Bettlaken gepinselt.

Den Auftakt des Überfalls auf Polen bildeten die Beschießung der Westerplatte bei Danzig durch das deutsche Linienschiff Schleswig-Holstein und die Bombardierung der Stadt Wielun. Eine offizielle Kriegserklärung gab es nicht. Die polnische Armee war den Angreifern hoffnungslos unterlegen. An manchen Frontabschnitten stürmte polnische Kavallerie gegen die technisch hochgerüsteten Wehrmachtsverbände. Da war der Ausgang klar. Trotzdem dauerte es bis zum 6. Oktober, bis die letzten polnischen Verbände kapitulierten.

Warschau wurde nahezu dem Erdboden gleich gemacht. Im Bombenhagel kamen 25.000 Zivilisten und 6000 Soldaten ums Leben. Am 17. September besetzten sowjetische Truppen Ostpolen - gemäß dem geheimen Zusatz des Hitler-Stalin-Pakts vom 24. August 1939. Der Blutzoll der Polen: sechs Millionen Menschen.

Obwohl Frankreich und Großbritannien dem Deutschen Reich schon am 3. September den Krieg erklärt haben, blieb ein Entlastungsangriff der Alliierten aus. Polen war im Stich gelassen worden.

Es folgt Schlag auf Schlag: Blitzsieg über Frankreich. Überfall auf die Sowjetunion 1941 und Kriegseintritt der USA im selben Jahr. Die verheerende Niederlage in Stalingrad 1943 markiert die Wende. Invasion der Briten und Amerikaner im Juni 1944 in der Normandie. Und am 8. Mai 1945 die Kapitulation der deutschen Streitkräfte. Die Nazi-Herrschaft war zu Ende. Mit dem Abwurf der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 war auch Japan am Ende, Kapitulation am 2. September 1945. Der Zweite Weltkrieg war vorbei.

Die Alleinschuld an der Entfesselung des Weltenbrands tragen in Europa die Deutschen - nicht nur Hitler, Göring, Goebbels, Himmler. Auch die Eliten der deutschen Gesellschaft, der Streitkräfte, der Wirtschaft und das Millionenheer der willfährigen Helfer sind darin verstrickt. Da kann kein Historiker mehr kommen und die ersehnte Absolution erteilen - wie beim Ersten Weltkrieg.

Es wird auch keinen Christopher Clark geben, den Lieblingsgeschichte(n)erzähler der Deutschen, der die Schuldverteilung neu vornehmen könnte. Da gibt es nichts zu deuteln: Die Deutschen waren in Europa ganz allein die Brandstifter. Die Mehrheit hat den Krieg zwar nicht gewollt. Aber die Mehrheit hat Hitler gewollt. Und Hitler bedeutete Krieg.

Wichtig ist heute, ins Bewusstsein zu rücken, wie es zu diesem Krieg kommen konnte? Warum das deutsche Volk in der Mehrheit bis zum bitteren Ende mitgemacht hat. Der aktuell wieder erstarkende Nationalismus, die spürbare Demokratieverdrossenheit, das sind Warnsignale. So hat es in der Zeit zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg auch angefangen.

Am Anfang stand damals eine Krise der Demokratien und ihrer Wirtschaft in Europa. 1920 gab es noch 24 demokratisch legitimierte Regierungen. 1938 waren es nur noch elf. Als die Wehrmacht halb Europa unter ihren Stiefeln hatte, gingen noch sechs verloren. Überall waren demokratiefeindliche Parteien entstanden, die gegen das als morsch verleumdete alte System kämpften. Ihre gemeinsamen Merkmale waren: aggressiver Nationalismus, Rassismus, Führerkult, Militarismus, Antisemitismus und Antiindividualismus.

Nationalisten und Rassisten machen stets die gleichen Fehler - auch heute noch: Sie können oder wollen nicht vom Ende her denken, so dass sie die Folgen ihres Tuns ignorieren. Und es fehlt ihnen Geschichtsbewusstsein. Europa lässt sich nicht von einer Nation auf Dauer unterjochen. Diese Lektion hat Hitler von Napoleon, den er bewunderte, nicht gelernt.

Der Faschismus Mussolinis in Italien lieferte Hitler die Blaupause. Er hat den Duce bewundert und dessen System monströs perfektioniert. Als man Hitler 1933 die Macht übergab, hat er Deutschland zu einem Führerstaat umgebaut. Antisemitismus wurde Staatsziel. Der Diktator hatte zwei weitere fixe Wahnvorstellungen: Revision des Versailler Vertrags und Schaffung von Lebensraum für die germanische Rasse im Osten. Ohne Krieg war beides nicht zu bekommen.

Ein Graffito in Wielun zeigt ein Flugzeug, das Bomben abwirft, mit dem Datum 1939 und der Uhrzeit 4:40. Foto: Kay Nietfeld

Eigentlich war die hochentwickelte Tschechoslowakei als erstes Opfer vorgesehen. Doch beim Münchner Abkommen 1938 machten Frankreich und England alle von Hitler geforderten Zugeständnisse. Deutschland bekam die Sudetengebiete mit drei Millionen Deutschen. Wenige Monate später kassierte Hitler das ganze tschechische Territorium. Für das kleine Land letztlich ein Glücksfall, denn bei einem Angriff der Wehrmacht wären Prag und andere Städte Böhmens und Mährens in Schutt und Asche gelegt worden.

Krieg war für Deutschland ein Ha- sardspiel. Er wäre nur zu gewinnen gewesen, hätten sich Hitler und seine Generäle den Osten und den Westen einzeln vornehmen können. Doch gegen vereinte Kräfte aller Gegner an mehreren Fronten musste Nazi-Deutschland verlieren. Bis 1942 triumphierte die deutsche Militärmacht mit ihrer Überrumpelungstaktik, ihrer brutalen Rücksichtslosigkeit, mit der Versklavung der überfallenen Völker, der rigorosen Ausbeutung ihrer Wirtschaft und der Missachtung sämtlicher Werte der Menschlichkeit.

Doch dann fehlte das wirtschaftliche Potenzial, um weiter zu siegen und den erstarkten Gegnern standhalten zu können. Besonders als die USA in den Krieg eintraten. Bereits 1943 war die Schlacht um die Vorherrschaft in der Produktion von Rüstungsgütern unwiederbringlich verloren. Es war nur noch eine Frage der Zeit bis zum Zusammenbruch des Deutschen Reiches.

Ort des Geschehens

All das hätte man wissen können, wenn man nicht in überheblicher Verblendung die Widerstandskraft der alten Demokratien und der Sowjetunion unterschätzt hätte. Zwar konnten die Führungsetagen des Dritten Reiches nicht ganz die Augen vor den realen Kräfteverhältnissen und dem für Deutschland ungünstigen Kriegsverlauf verschließen. Sie waren aber zu sehr in das verbrecherische NS-System eingebunden. Man fürchtete die Vergeltung der Alliierten nach der deutschen Niederlage. So haben die Deutschen große Teile Europas und auch ihr eigenes Land verwüstet. Winston Churchills Fazit ist Mahnung für uns heute: "Niemals hätte sich ein Krieg leichter verhindern lassen, als der Zweite Weltkrieg."