Mannheim

Späte Aufklärung über dunkles Kapitel

Die Historikerin Lea Oberländer sprach bei der Holocaust-Gedenkfeier über Euthanasie in Mannheim. Eine Delegation aus der Normandie nahm teil.

28.01.2023 UPDATE: 28.01.2023 06:00 Uhr 2 Minuten, 22 Sekunden
Hielt den Hauptvortrag bei der Gedenkfeier: Lea Oberländer. Foto: Gerold

Von Olivia Kaiser

Mannheim. 70.000 Menschen sind während des Naziregimes systematisch ermordet worden, weil ihr Leben als "unwert" erachtet wurde. Es handelte sich um Menschen mit körperlicher und geistiger Beeinträchtigung, chronisch Kranke, Menschen, die an Demenz litten oder suchtkrank waren. Der Massenmord ist als "Euthanasie" bekannt – eigentlich ein problematischer Begriff, da "Euthanasie" die Bedeutung "schöner Tod" trägt. Zum Internationalen Gedenktag an die Opfer des Naziterrors am Freitag wurde speziell dieser Gruppe gedacht.

Auch mehr als 1000 Mannheimerinnen und Mannheimer wurden vor allem zwischen 1940 und 1941 umgebracht, weil sie körperlich und mental nicht dem Bild der "Herrenrasse" entsprachen, wie die Historikerin Lea Oberländer ausführte. Bei der von der Stadt sowie der Gesellschaft für christliche und jüdische Zusammenarbeit organisierten Gedenkveranstaltung im Reiss-Engelhorn-Museum hielt sie den Hauptvortrag.

Oberländer hat für ihre Dissertation im Auftrag der Stadtverwaltung zu den Euthanasie-Opfern von Mannheim geforscht. "Das ist bemerkenswert", betonte sie. "Denn die Zahl der Kommunen, die diesen Teil ihrer Geschichte aufarbeiten, ist überschaubar." Über die Ermordung von körperlich und geistig beeinträchtigten Menschen sei lange der Mantel des Schweigens gehüllt worden. Viele Angehörige schämten sich, und auch staatliche Organe hatten kaum Interesse an einer Aufklärung. Erst in den 1980er und 1990er-Jahren begann langsam die Aufarbeitung.

Das Töten fand in staatlichen Heilanstalten statt. Da es in Mannheim keine Einrichtung dieser Art gab, starben die meisten Menschen in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb, aber auch in Wiesloch, Klingenmünster oder Mosbach. Sie wurden vergast, erhielten eine tödliche Injektion, starben bei Experimenten, oder man ließ sie einfach verhungern.

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Exemplarisch hob Oberländer drei Biografien hervor. Besonders berührte das Schicksal der kleinen Anita Andres, die nur vier Jahre alt wurde. Sie war ein Opfer des Heidelberger "Arztes" Karl Schneider. Viele der Ermordeten stammten aus ärmlichen Verhältnissen und führten schon vor ihrer Einweisung in eine Anstalt ein Leben am Rand der Gesellschaft.

So zeigte Oberländer anhand einer Karte von Mannheim, dass in der Oststadt, wo das Großbürgertum lebte, nur 0,03 Prozent betroffen waren, während es im Stadtteil Waldhof mit 0,3 Prozent zehn Mal so viele Menschen waren.

Lea Oberländer ist es ein Anliegen, die Namen der Opfer und ihr Schicksal öffentlich zu machen. Sie sollen nicht vergessen werden. Die Namen der ermordeten Mannheimerinnen und Mannheimer werden daher in die Datenbank des NS-Dokumentationszentrums des Stadtarchivs Marchivum eingespeist.

Im Anschluss stellten Jugendliche von vier Schulen die Ergebnisse ihrer Projektarbeit zu dem Thema vor. Die Gruppe der Max-Hachenburg-Schule zeigte das Video einer von den Schülern inszenierten Talkshow. Gast ist ein Arzt, der in einer "Euthanasie"-Anstalt gearbeitet hat, sich aber keiner Schuld bewusst ist, da er niemanden selbst umgebracht hat.

Zwei Schülerinnen der Marie-Curie-Realschule beleuchteten die Tätergruppe, und die Theater-AG der Wilhelm-Wund-Realschule setzte sich mit dem Begriff "Euthanasie" auseinander. Eine Schülergruppe der Integrierten Gesamtschule Herzogenried hat einen interaktiven Stadtrundgang kreiert, den man anhand eines QR-Codes machen kann. Zudem wurde ein Video der Erasmusschüler der Gesamtschule gezeigt, die in Rumänien sehbehinderten Kindern die Sportart Goalball beibrachten.

Vor allem die Beiträge der Schülerinnen und Schüler beeindruckten François Xavier Priollaud, Vize-Präsident der Region Normandie, der derzeit mit einer Delegation in der Quadratestadt weilt. "Meine Mutter ist Jüdin, das Gedenken ist für mich also sehr wichtig", berichtete er im Gespräch mit der RNZ. Wichtig sei aber auch, die Jugend einzubinden, so wie in Mannheim. "Denn nur wer die Vergangenheit kennt, kann auch die aktuellen Krisen verstehen."

Die Landung der Alliierten in der Normandie 1944 markierte einen Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Tausende Soldaten starben an den Stränden. Die Erinnerungskultur in der Region ist daher stark, ein Resultat ist die Initiative "Normandie pour la paix" (Normandie für den Frieden), die Priollau 2017 mit ins Leben gerufen hat. Zu den vielen Aktivitäten gehört ein jährliches internationales Forum, das Antworten auf die globalen Krisen sucht.

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