"Adelante"-Festival Heidelberg

Vom Himmel gefallen und zu Boden gedrückt

"Normalización" (Kuba) und "Hielo Negro" (Argentinien) beim "Adelante"-Festival im Heidelberger Theater

09.02.2024 UPDATE: 09.02.2024 06:00 Uhr 1 Minute, 45 Sekunden
Mit emotionaler Tiefenwirkung: Szene aus dem kubanischen ¡Adelante!-Gastspiel „Normalización“. Foto: Saavedera Glez

Von Isabelle von Neumann-Cosel

Heidelberg. Wenn man sich durch die Nachrichten zappt, kann man zu dem Schluss kommen, dass Vertreibung und Flucht der neue Normalzustand sind – das gilt auch für Kuba. Zwei Brüder aus Havanna, der Bildende Künstler Lázaro und der Tänzer César Saavedra Nande, stemmen sich im berührenden Kammerspiel "Normalización" der Migration entgegen.

Das beim Heidelberger "Adelante"-Festival gezeigte Stück lebt vom Soundtrack: historische und tagesaktuelle Nachrichten auf einem altertümlichen Schwarz-Weiß-Fernseher, denen kubanischer O-Ton entgegengesetzt wird. Beispielsweise durch eindringliche Sprechchöre auf Demonstrationen und Original-Stimmen der Verzweifelten, die versuchen, auf wackligen Flößen übers Meer zu fliehen oder zu Fuß den lebensgefährlichen Dschungel zu durchqueren. Die genau recherchierten Einzelschicksale und dokumentarischen Bilder sind es, die zur emotionalen Tiefenwirkung dieses Stücks beitragen.

Die preisgekrönte kubanische Regisseurin Nelda Castillo versteht ihr Handwerk. Den Tanz als Kommunikationsmittel setzt sie nur einmal ein – aber das so wirkungsvoll, dass es sich ins Gedächtnis einschreibt. Wenn sich César Saavedra Nande – erfolgreicher Tänzer und Choreograf – akrobatisch am Boden windet, dann ist kein Hip-Hop-Battle in Sicht, sondern eine niederdrückende Kraft, der er sich mit allen Mitteln entgegensetzt. Die anschließende, in helles Licht getauchte Sequenz klassischer Ballett-Schritte wirkt wie eine ferne Verheißung auf ein leichteres, schöneres, himmelweit entferntes Leben – schlicht getanzt ganz ohne Kitsch.

Wovon handelt Theater? Von Schönem und Hässlichem, von Gut und Böse, von Leben und Tod – und von der Gleichzeitigkeit der Gegensätze. In den Produktionen der argentinischen Grupo Krapp loten Luciana Acuña und Luis Biasotto diese Spannweite mit absurdem Humor und hohem körperlichen Einsatz der Darsteller aus. "Hielo Negro" (Schwarzes Eis) ist ein Theater-im-Theater-Stück mit fließenden Grenzen zwischen Realität und Fiktion.

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Das Publikum erlebt eine Theaterprobe, bei der weder die vier Beteiligten auf der Bühne noch der leicht verpeilt wirkende Beleuchter einen Plan haben. Stattdessen gibt es Anweisungen, Fragen und Rohrpost-Botschaften aus dem Off. Darin finden sich Verweise auf die Gründung der Truppe, angeregt durch die Begegnung mit einem Theater …

Klar, dass diese Theaterprobe ganz viel Lärm um – ja, was denn eigentlich? – erzeugt. Die vier Darsteller in Overalls mit fellumrandeten Kapuzen und Allover-Blumenprint bewegen sich jenseits aller Zuschreibungen mal wie kriechende Schlangen, dann wie übermütige Kinder, wie kraftstrotzende Teenager oder wilde Tiere, selbstvergessen oder exakt nach Anweisung. Was das Ganze soll – darüber können sie selbst keine befriedigende Auskunft geben. Aber sie bleiben hartnäckig am Ball, selbst wenn die Bühne stark in Mitleidenschaft gezogen wird.

Am Ende stellt der Theatergott ex Machina immer bohrendere Fragen: Wie groß, auf einer Skala von 1 bis 10, ist deine Lust, etwas Böses zu tun? Natürlich lautet die Antwort: 10. Der abschließende Countdown endet zum Glück für das Publikum bei 1. Letzteres spendet viel Beifall für den anarchischen, absurd komischen, hintersinnigen Theaterspaß.

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