"Es gibt auch mal Pommes!"

Holger Stanislawskis neue Sitten in Zuzenhausen      

29.06.2011 UPDATE: 29.06.2011 23:33 Uhr 2 Minuten, 50 Sekunden
"Es gibt auch mal Pommes!"

Holger Stanislawskis neue Sitten in Zuzenhausen

 

 

 

Konstantin Stanislawski reformierte vor einhundert Jahren das Welttheater grundlegend. Der russische Regisseur hatte eine völlig andere Sicht auf das Theater als seine Vorgänger, führte neue Methoden ein und bildete die Grundlage für viele große Künstler nach ihm (darunter Bertolt Brecht). Seine Methode, Schauspiel zu unterrichten ist bis heute die Grundlage für viele Schauspielschulen weltweit. Vieles scheint ihn mit seinem Namensvetter Holger Stanislawski - über eine Verwandtschaft ist nichts bekannt - zu verbinden. 2011 macht sich "Stani" daran, die Fußballwelt im Kraichgau zu reformieren.

Es ist Dienstag, 17:36 Uhr in Zuzenhausen. Die Sonne brütet. Die Profis von 1899 Hoffenheim haben ihre erste gemeinsame Trainingseinheit hinter sich, die Nationalspieler sind gerade zurückgekehrt. Zwei Mannschaften treten zum Elfmeterschießen gegeneinander an. Orange gewinnt, Stanislawski: "Die Verlierer bauen ab!" Ibisevic blinzelt. Mlapa stutzt. Ein kollektives "Wir?" huscht über die Gesichter des Blauen Teams. Nur Marvin Compper nickt und winkt zum Aufbruch - das ist eben so, bei Stani.

Die Neuankömmlinge müssen sich erst an Stanis neue Sitten gewöhnen, Compper ist mit den Erfahrungen aus einer Trainingswoche schon schlauer: Im Kraichgau bauen die Spieler nun selbst die Tore, Hütchen und Stangen ab und sammeln die Bälle selbst ein. "Das ist ganz normal für mich", findet Stanislawski. "Wir können doch nicht Heinz (Mannschaftsbetreuer Heinz Seyfert,63, Anm.d.Red.) als etwas Älteren permanent die Bälle hier einsammeln lassen. Dafür haben die Jungs eine Verpflichtung. Wir arbeiten mit den Materialien, deshalb tragen wir sie auch wieder weg."

Auch der Ton hat sich verändert. Als ein Volley-Schuss von Dominik Kaiser mit vollem Karacho über den Zaun an die Fensterscheibe von Ernst Tanner springt, kommt der überraschte Manager gar nicht zu einem Kommentar, als er aus dem Fenster blickt. Stani ist schneller: "Antennen ausfahren, da oben!" Tanner schmunzelt - die Zuschauer lachen herzlich. 

Oder: Als Sejad Salihovic einen strammen Linksschuss unhaltbar aus 20 Metern in den Winkel setzt, schüttelt Stanislawski mit dem Kopf: "Mein Gott der Starke! (Torwart Tom Starke, Anm.d.Red.) Den hätte ich ja mit der Kappe gefangen."

Es wirkt wie eine friedliche Revolution im Fußballdorf. Die ungewohnte Leichtigkeit des Seins! So ist noch keiner von "Stanis" Vorgängern aufgetreten. Stani ist nah bei den Fans, immer offen für einen Plausch oder Autogramme.

All das animiert die Spieler zum Nachdenken und löst bei den Trainingszuschauern Wonne aus. Es geht wieder zu in Zuzenhausen, wie auf jedem anderen Trainingsplatz in der Region. Die Spieler sind selbst verantwortlich. Ein weiteres Beispiel: Aufräumen im Trainingszentrum. Machen die Spieler Unordnung im Gebäude, räumt die Putzfrau ihnen nicht mehr alles hinterher. Die Profis müssen auch hier selbst anpacken! Es ist das kollektive, gelebte Miteinander, ein neues Wir-Gefühl vom Platzwart bis zum Stürmer. Und Stani kommt damit an. Nicht umsonst sagt Geschäftsführer Frank Briel: "Stani motiviert alle Mitarbeiter. Es herrscht eine herzliche Atmosphäre und das wirkt sich auf alle aus."

Die Eigenverantwortung der Spieler geht noch weiter. So gibt es nun auch keine Sonderwünsche mehr beim Frühstück, sondern feste Essenszeiten. Wer nicht kommt, bleibt hungrig. Und die Ernährung selbst wird auch umgestellt. "Es gibt auch mal Pommes!", hat Stanislawski den Speiseplan umgestaltet. Die Ernährungsberaterin soll zwar beibehalten werden, die Regeln werden aber etwas gelockert. "Wir werden nicht alles verbieten. Die Jungs sollen wissen, dass einmal Fast Food o.k. ist, aber nicht sieben Mal die Woche. Das geben wir den Jungs mit" und die müssen sich selbst darum kümmern. Beinahe unglaublich: Was vor fünf Jahren nach Überlieferungen angeblich mit ein Grund war für die Trennung der TSG vom damaligen Starspielers Örüm in der Regionalliga, nämlich der Verzehr von Pommes auf einer Raststätte nach einem Auswärtsspiel, wird nun im großen Stil eingeführt. 

 Noch ein Beispiel - das Thema Weggehen: Auch da stellt "Stani" seine Position im "kicker" klar: "48 Stunden vor einem Ligaspiel nach 23 Uhr irgendwo erwischt zu werden, bedeutet richtig Stress. Ich baue mir hier gerade mein Informantennetz auf, so wie in Hamburg."

Mit diesem neuen Stil der Bodenständigkeit, Fannähe und der Balance zwischen Lockerheit und klaren Ansagen an die Spieler trifft Holger Stanislawski im Kraichgau im Moment bei vielen genau den richtigen Ton.

Vor einhundert Jahren brachten die Veränderungen Konstantin Stanislawskis, die nach ihrer Einführung so selbstverständlich wirkten, das Welttheater auf eine neue Ebene. Wenn am 5. August die große Fußballbühne ihren Vorhang öffnet, wird sich zeigen, ob auch Holger Stanislawskis Änderungen bei der TSG ähnlich fruchten.

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