In Leimen ist Halbzeit bei der Weinlese
Mensch und Maschine bringen hier die Trauben ein.

Von Sabrina Lehr
Leimen. Die Bewegungen der Arbeiter sind flink. In einem steten Rhythmus klicken ihre Rebscheren beim Durchtrennen der dünnen Äste. Im gleichen Takt fallen Traubenhenkel mit dunklen, prallen Beeren in die bereitgestellten Eimer. "Chef, kann das rein?", unterbricht die Frage einer Frau die konzentrierte Arbeit. Der Chef, das ist Matthias Müller. Der Geschäftsführer des Weinguts Adam Müller eilt herbei, schaut sich die Trauben genau an, die die Frau ihm zeigt, und nickt dann: "Ja, das kann rein."
Was von diesen Rebstöcken am Leimener Herrenberg erst in den Eimern und letztlich in den Fässern und Flaschen landet, ist handverlesen. Kein Wunder, entsteht aus diesen Trauben doch der trockene Spätburgunder, gerne als "König der Rotweine" bezeichnet. Er ist eine der zahlreichen Rebsorten, die dieser Tage auf der Müllerschen Anbaufläche gelesen und in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten zu Wein ausgebaut werden.

Auf 20 Hektar von Heidelberg über Leimen bis nach Nußloch sowie auf 15 Hektar Boden im Kraichgau wachsen die Trauben, die im Weingut Adam Müller zu Wein verarbeitet werden. "Unser Herz hängt aber in Leimen", sagt Matthias Müller lachend, als er durch die akkuraten Reihen von Rebstöcken geht. Während anderswo – in den Weinbergen der zahlreichen Hobbywinzer in der Region etwa – ein reger Betrieb zwischen den Rebstöcken herrscht, ist die Lese bei Müllers konzentrierte Akkordarbeit.
In Minuten ist eine Reihe Rebstöcke abgeerntet, und der Traktor mit der "Bütt" biegt in die nächste Reihe ein. In diesen Behälter schütten die Arbeiter ihre mit Trauben gefüllten Eimer. "Früher waren viele ältere Frauen aus Leimen in den Weinbergen aktiv", so Müller, der beim Abschreiten der Reihen immer wieder die Rebstöcke begutachtet und die Besonderheiten von Boden, Pflanze und Traube erklärt. In vergangenen Zeiten gehörten Plaudereien ebenso dazu wie ein Vesper und das Gläschen Wein zwischen dem Traubenschneiden. "Heute wäre das aber nicht mehr denkbar."
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Kein Wunder: Auch im Weinbau herrscht Fachkräftemangel. Gearbeitet wird im Winter wie im Sommer, bei Wind und Wetter. "Das ist knochenharte Arbeit", weiß Müller, der seit knapp 30 Jahren als Winzer wirkt. Gleiches gilt auch für die Lese selbst. Von 7.30 bis 17 Uhr sind die Helfer im Weinberg, um immer wieder in gebückter Haltung die Henkel zu schneiden. "Viele Leute gehen gerne mal eine Stunde mit und haben dabei auch Spaß, aber ganztägig sieht das anders aus", so Müllers Erfahrung.
Im Weingut seiner Familie wird in neunter Generation Wein in Leimen anbaut. Ein festes Team von rund zwölf Arbeitern bestreitet die Lese. Und Maschinen. Denn bei Müllers kommen auch Vollernter zum Einsatz – zumindest wenn Bedingungen wie der Abstand zwischen den Rebstöcken und die Homogenität der Traubenqualität entsprechend sind.
"Die Kunst ist, beides da einzusetzen, wo es sinnvoll ist", erklärt Weinfachmann Müller. "Ohne die Maschine geht es nicht mehr und ohne den Menschen auch nicht." Am Ende erkenne der Laie den Unterschied nicht zwischen Handlese und Vollernter, so Müller. Unweit von den noch voll behangenen Spätburgunder-Stöcken sind die Reben bereits abgeerntet. Seit gut zwei Wochen läuft die Lese bereits, den Auftakt machte traditionell der Müller-Thurgau. Nun herrscht Halbzeit. Was vor Jahren noch eine extrem frühe Lese gewesen wäre, ist inzwischen normal, erklärt Winzer Müller.
"In den letzten zehn Jahren hatten wir nicht einmal einen Lesebeginn wie früher", berichtet der Winzer. Der 18. September sei damals üblicherweise der Lesestart gewesen, inzwischen beginne man teils schon Ende August damit, die Trauben einzuholen. Statt 100 benötige die Traube inzwischen nur noch 90 Tage, um reif zu werden. In Richtung von Klimawandel-Skeptikern sagt Müller: "Wir Winzer merken, dass sich in der Natur einiges verändert hat."

Die Natur – sie ist der Dreh- und Angelpunkt von Müllers Wirken. "Wir leben von und mit der Natur", erzählt er mit Stolz, während er durch Hohlwege, sattgrüne Grasbankette und entlang spektakulärer Panoramaaussichten führt. Dabei liefert der Altweibersommer eine geradezu malerische Kulisse, die auch etliche Spaziergänger genießen. Angesichts dessen ist es kaum zu glauben, dass die diesjährige Lese dem erfahrenen Winzer bereits Bauchschmerzen bereitete. Nicht nur, weil aufgrund jüngst feuchter Tage schnell "eingeholt" werden müsse – andernorts macht etwa die Fäule den Winzern Probleme.
Auch das Wetter zu Wochenbeginn trieb Müller kurzfristig die Sorgenfalten auf die Stirn. "Da waren Wolken, die mich an 2006 erinnert haben", sagt er: Damals verhagelte das Wetter einen vielversprechenden Jahrgang. Doch dieses Mal ging alles gut, das Gewitter zog vorbei. Und wie wird er, der 2023er Jahrgang? Noch bleibt Müller mit einem Fazit vorsichtig – zumindest bis der Wein im Keller ist. Der Zwischenstand ist aber vielversprechend: "Die Qualität ist sehr hoch, das gibt einen fruchtbetonten, geschmackvollen Jahrgang."
Alte Reben und neue Trends
Leimen. (lesa) "Es gibt keinen Beruf auf der Welt, der eine solche Bandbreite aufweist wie der Weinbau", sagt Matthias Müller zur Frage, was den Beruf des Winzers ausmacht. Die Arbeit in der Natur, im Keller, der Vertrieb der Weine und der Kontakt mit Menschen sind Dinge, die er aufzählt. Und wer mit dem Winzer durch die Weinreben geht, hört noch mehr Faszinierendes über ein Handwerk, das seit der Antike betrieben wird. Splitter aus dem Weinberg:
Die Landschaft: Die zur Sonnenseite ausgerichteten Reben an den Odenwaldhängen prägen Leimens Ansicht. "Hier gab es nie eine Flurbereinigung, das sind alles natürlich gewachsene Weinberge", sagt Müller. Die Reihen der Reben sind immer wieder unterbrochen durch Plateaus, Hohlwege und kleine Unterstände, die seit Jahrzehnten im Weinberg stehen. Die einen sind Rückzugsgebiete für Nützlinge, die anderen für Menschen zur Naherholung. "Solange niemand etwas beschädigt und jeder seinen Müll wegräumt, ist jeder willkommen", betont Müller.
Die alten Reben: Metertief können die Wurzeln einer Rebe in den Boden reichen – je nachdem, wie alt die Pflanze ist. Auf dem Weg durch den Weinberg zeigt Müller Stöcke, die 60 Jahre alt sind. Und alte, weniger gängige Rebsorten wie etwa den Auxerrois. "Die alten Rebsorten zu erhalten, ist uns sehr wichtig", so Müller.
Die Trends: Obwohl das Handwerk alt ist und eine Rebe Zeit zur Entwicklung braucht, unterliegt der Weinbau Trends. "Um die Jahrtausendwende gab es einen richtigen Rotwein-Boom", erinnert sich Müller. Das habe sich aber inzwischen völlig verändert: "Vor allem trinkfreudige Weißweine sind im Trend, und der Rosé wird stark nachgefragt." Entsprechend haben die Weißweine bei Müllers einen Anteil von 70 Prozent. Und durch die 30 Prozent schwarzen Trauben könne man eine "Mehrmenge" an Rosé anbieten.
Die Farben: Weiß, Rot und Rosé: Diese Farben haben Weine. Doch wie kann es sein, dass aus einer schwarzen Traube Weine aller Farben entstehen? Beim "Blanc de Noir" – dem Weißwein aus der schwarzen Traube – wird die Frucht nach der Lese nur "leicht angepresst", erklärt Müller: Die Farbstoffe sitzen nämlich in der Traubenschale. Beim Rosé dagegen wird der Saft aus der Traube gepresst und nach wenigen Stunden von den Schalenresten getrennt. "So kommt nur ein Bruchteil der Farbe in den Most", so Müller. Und zur Herstellung von Rotwein werden bei der Gärung die Farbstoffe aus der Schale gelöst – und landen somit im Wein.