Einzelhandel in Buchen

"Uns lässt man am langen Arm verhungern"

Für die Einzelhändler zeigt die Uhr "fünf vor zwölf" an. Das wirtschaftliche Überleben steht auf der Kippe.

12.01.2021 UPDATE: 13.01.2021 06:00 Uhr 2 Minuten, 58 Sekunden
Katja Steimer (links), Simone Farrenkopf (dritte von links) und Melanie Haag (rechts) informierten über die Situation der Innenstadthändler während der zweiten Zwangsschließung. Teresa Dittrich von der Stadtverwaltung unterstützt die Händler beim Marketing. Foto: Martin Bernhard

Von Martin Bernhard

Buchen. "Wir vermissen unsere Kunden!", beklagten Einzelhändler der Buchener Innenstadt. Und zwar nicht nur den Kundenumsatz, der ihnen durch die Corona-Maßnahmen entgeht, sondern auch die persönlichen Begegnungen. Bei der staatlichen finanziellen Hilfe fühlen sich die Geschäftsleute im Vergleich zur Gastronomie benachteiligt.

"Einzelhandel im Corona-Jahr mit größtem Umsatzplus seit 1994", titelte die Wirtschaftszeitung "Handelsblatt" in der vergangenen Woche. Das Statistische Bundesamt hatte gemeldet, dass trotz der beiden Geschäftsstilllegungen wegen der Corona-Pandemie der Einzelhandelsumsatz preisbereinigt um 4,1 Prozent gestiegen sei. Doch davon profitieren Innenstadt-Einzelhändler nicht – ganz im Gegenteil. Während Online-Versender 24 Prozent mehr umsetzten als im Vorjahr, müssen nach Angaben des Hauptverbands Deutscher Einzelhandel stationäre Händler, die Schuhe, Textilien oder Lederwaren verkaufen, ein Minus von mehr als 20 Prozent hinnehmen.

Simone Farrenkopf, Inhaberin des gleichnamigen Schuhhauses in der Marktstraße, hat in ihrem Geschäft einen Stuhlkreis coronagemäß aufgestellt. Gemeinsam mit Melanie Haag (Schuhhaus Haag), Katja Steimer (Telekommunikation) und Teresa Dittrich vom Stadtmarketing der Stadtverwaltung Buchen informierte sie die RNZ über die Situation des Einzelhandels in der Buchener Innenstadt. Die drei Händlerinnen betonten, dass sie nicht nur für sich, sondern für die Einzelhändler der Aktivgemeinschaft Buchen sprechen.

Am 14. Dezember mussten die Geschäfte wieder schließen, mitten im Weihnachtsgeschäft. Doch bereits seit Mitte Oktober sei der Umsatz deutlich zurückgegangen. "Wir hatten im Herbst schon massive Umsatzeinbrüche", stellte Simone Farrenkopf fest. Denn ein unbeschwertes Bummeln durch die Innenstadt sei nicht mehr möglich. Dem Einkaufen fehle der Erlebnisfaktor. Als die Corona-Zahlen stiegen, hielten sich die Kunden mehr und mehr zurück.

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Wie man die Buchener Innenstadthändler unterstützen kann: Die Buchener Einzelhändler nehmen Bestellungen telefonisch und per Mail entgegen. Außerdem kann man sich über www.I-love-Buchen.de über das Angebot örtlicher

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Wie man die Buchener Innenstadthändler unterstützen kann: Die Buchener Einzelhändler nehmen Bestellungen telefonisch und per Mail entgegen. Außerdem kann man sich über www.I-love-Buchen.de über das Angebot örtlicher Händler informieren und bestellen. Weiterhin kann man einen Schaufensterbummel durch die Innenstadt unternehmen und dabei Artikel fotografieren, die einem gefallen. Das Foto kann man dem Händler zuschicken und einen Termin für die Abholung der Ware vereinbaren.

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Dankbar sind alle drei Händlerinnen ihren Stammkunden, die ihnen auch in dieser schwierigen Phase die Treue gehalten hätten. Und auch die Mitarbeiter der Stadt Buchen seien sehr hilfsbereit gewesen. So habe die Stadt im Frühjahr während des ersten Lockdowns äußerst schnell mit den Händlern und Werbefachmann Matthias Grimm den Online-Shop "I love Buchen" eingerichtet.

Die Stärke des örtlichen Einzelhandels liege in der persönlichen Beratung. Denn viele Waren könne man bei großen Online-Kaufhäusern günstiger erwerben als bei den vergleichsweise kleinen Innenstadthändlern. Wenn Beratung nicht mehr möglich ist, weil man das Geschäft nicht öffnen darf, verliere man dieses Alleinstellungsmerkmal.

Seit vergangenen Montag dürfen Kunden zwar bestellte Waren bei den örtlichen Geschäften abholen. Doch eine fundierte Beratung über Telefon oder E-Mail sei nicht möglich. "Erste Schuhe fürs Kind kann man nicht übers Telefon verkaufen", stellte Melanie Haag fest.

Und auch Katja Steimer, Betreiberin eines Handyladens, kann fernmündlich nicht Programme auf ein Smartphone installieren oder dessen Funktionsweise erklären. Vor allem ältere Menschen, die sich mit PC und Internet nicht auskennen, leiden unter der gegenwärtigen Situation. "Ein 80-jähriger Mann wollte bei mir Akkus für sein Festnetztelefon kaufen. Er weinte, als ich ihm sagte, dass ich ihm diese nicht verkaufen darf", erzählte Katja Steimer.

Vor allem Schuh- und Textilhändler verkaufen Saisonware, die modischen Trends unterliegt. "Wir müssen ein Jahr im Voraus bestellen und die Ware bezahlen", erläuterten Haag und Farrenkopf. "Und wenn wir diese nicht verkaufen, können wir sie nicht zurückgeben." Dies unterscheide den Einzelhandel von der Gastronomie. Wirte kaufen während der Zwangsschließung keine oder weniger Waren ein, die Händler bleiben auf ihren vollen Lagern sitzen und müssen jetzt bereits für die Saison Herbst/Winter 2021 bestellen.

Die Händlerinnen kritisieren auch die staatlichen finanziellen Förderungen. "Uns lässt man am langen Arm verhungern", sagte Melanie Haag. "Wir brauchen das Geld mehr als die Gastronomie!" Denn wer im Laufe der Jahre und Jahrzehnte Rücklagen aufgebaut habe, müsse diese zuerst verbrauchen oder ein Darlehen auf sein Haus aufnehmen. "Es geht ums wirtschaftliche Überleben", stellte auch Katja Steimer fest. "Bei vielen Leuten ist noch nicht angekommen, worum es geht."

Für die stationären Einzelhändler stehe die Uhr auf "fünf vor zwölf", sagte Haag. Wie die Hilfsmaßnahmen umgesetzt würden, sei nicht gerechtfertigt. "Wir müssen alle überleben. Nicht nur gesundheitlich, auch wirtschaftlich", sagte die Schuhhändlerin. "Das Problem ist die Perspektivlosigkeit", ergänzte Simone Farrenkopf. Trotz der schwierigen Situation ist es für die drei Händlerinnen kein Thema, Geschäfte trotz Verbots einfach zu öffnen, wie es einige Einzelhändler bundesweit angekündigt hatten. "Wir machen nicht die Revoluzzer", sagte Haag. "Wir fordern die Gleichstellung mit der Gastronomie!"

Simone Farrenkopf und Melanie Haag haben sogar in den "sauren Apfel" gebissen und bieten ihre Waren auch über Amazon an. 18 Prozent zu zahlende Provision zuzüglich Versandkosten schmerzen zwar. "Aber wenn wir den Kuchen nicht kriegen, müssen wir halt die Krümel nehmen", sagte Haag. Welche Marktmacht Amazon verfügt, stellte Farrenkopf rasch fest. So macht sie drei Viertel ihres Online-Umsatzes bei dem Branchenriesen und nur ein Viertel bei "schuhe.de", wo sie schon seit Monaten vertreten ist.

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