Im norwegischen Dovrefjell kann man die einzige wild lebende Population von Moschusochsen in Kontinentaleuropa beobachten. Fotos: M. Juhran
Von Michael Juhran
Kim van Kooten ist guter Dinge: "Unsere Chancen, die Urtiere zu Gesicht zu bekommen, liegen bei 95 Prozent." Kim hat in Norwegen ihren Bachelor in Nature Management absolviert und ist seit Juni 2019 Guide im Nationalpark Dovrefjell-Sunndalsfjella, wo sie ihren Traumjob gefunden hat. "Mich als Niederländerin nahm die Berglandschaft des Nationalparks sofort gefangen. Was kann es schöneres geben, als täglich in dieser Märchenlandschaft mit seinen wunderbaren Tieren, majestätischen Bergen und glasklarer Luft unterwegs zu sein?" Kims Begeisterung überträgt sich schnell auf die kleine Gruppe deutscher Touristen, die mit ihr am Morgen vom 40 Autominuten entfernten Oppdal aufgebrochen ist. Mit Wanderschuhen, Regenkleidung, Kamera und Lunchpaket ausgerüstet, beginnt die Safari am unscheinbaren Eingang des Nationalparks in Grönbakken.
Auf einer Übersichtskarte deutet die junge Frau auf die Regionen, in denen sie zuletzt einige Gruppen von Moschusochsen sichten konnte. "Die Tiere sind weder mit Chips bestückt, noch orten wir sie mit Drohnen, so dass wir täglich selbst herausfinden müssen, wo sie sich aufhalten", gibt Kim zu Bedenken. Doch gerade diese Ungewissheit macht die Safari zu einem echten Abenteuer. Niemand kann voraussagen, ob man zwei oder sechs Stunden unterwegs ist. Voller Spannung und Abenteuerlust geht es auf dem ersten Kilometer durch kleinwüchsige Birken, Blaubeersträucher, Heidekraut und weiße Flechten. Das Hochplateau mit schneebedeckten Bergspitzen im Hintergrund, Feuchtbiotope und sandige Täler setzen landschaftliche Kontraste. Kim nutzt die Zeit für einen kurzen geschichtlichen Exkurs.
Zwischen 1932 und 1953 wurden mehrfach Tiere aus Grönland importiert und im Nationalpark angesiedelt. Hier trafen sie auf günstige Lebensbedingungen mit ausreichend Nahrung, wenigen Bären und Vielfraßen, die ihnen gefährlich sein könnten. Die spärliche Bewaldung und die langen Winter bilden ein ideales Umfeld, obwohl ihr Stammgebiet mit rund 100 Quadratkilometern vergleichsweise klein ist. Im Laufe der Jahre konnte so die einzige wild lebende Population von Moschusochsen in Kontinentaleuropa von 135 Tieren im Jahr 2003 auf jetzt 300 Tiere anwachsen – ein Riesenerfolg, nachdem ein früherer Wiederansiedlungsversuch gescheitert war. Und ein Glück für europäische Naturliebhaber, die ansonsten nur in Grönland oder im äußersten Norden Kanadas und Russlands eine Chance hätten, die zotteligen Gesellen zu Gesicht zu bekommen.
Nationalpark-Rangerin Kim hat kleine Wollbüschel vom Unterfell der Tiere gefunden.Kim bleibt stehen, zupft vom Gebüsch kleine Büschel weichen Unterfells und sichtet am Boden weitere Hinterlassenschaften der mit den Ziegen verwandten Horntiere. Dann zückt sie ihr Fernglas und beginnt zu lächeln. Weniger als einen Kilometer entfernt hat sie neun grasende Moschusochsen entdeckt. Langsam pirscht sich die Safari-Gruppe bis auf 250 Meter an die Tiere heran. Kim hebt die Hand, sie hat unter den allesamt weiblichen Tieren ein Kalb identifiziert. Eine weitere Annäherung verbietet sich! Auch die Nationalpark-Regeln schreiben vor, einen Mindestabstand von 200 Metern zu wahren. "Moschusochsen kennen keine Furcht", klärt Kim auf. Bei Gefahr bilden sie einen Kreis und bieten dem Angreifer die Stirn. Anschließend gehen die kräftigen Tiere einzeln zum Angriff über und erreichen dabei bis zu 60 Stundenkilometer. Zwei naive Parkbesucher mussten ein unbedachtes Verhalten mit ihrem Leben bezahlen.

Auch aus sicherer Entfernung wird die Tierbeobachtung vor dem Panorama der faszinierenden Gebirgslandschaft zu einem unvergesslichen Erlebnis. Ruhig äsend stapfen die bis zu 300 Kilo schweren Damen mit gesenkten Hörnern durch die Tundra, zupfen mal an kleinen Birken und Weiden oder wenden sich genügsam Flechten und Moosen zu, wohl wissend, dass der Aufbau eines Fettpolsters vor dem Winter überlebensnotwendig ist. Während des Grasens halten sie es aufgrund ihrer ausgezeichneten Augen und ihres empfindlichen Geruchssinns nicht für nötig, die Köpfe zu heben. Längst haben sie die kleine Safari-Gruppe ausgemacht und dulden sie auf Abstand. Auch die Kälte macht ihnen nichts aus. Ihr dichtes Unterfell isoliert achtmal stärker als Schafwolle und ist weicher als Kaschmirwolle. An dem neugewachsenen Winterfell hängen noch einige zottige Fetzen vom Vorjahr. Alle hinterlassen mit ihrem bis zu 70 Zentimeter langen Deckhaar einen prächtigen, massigen Eindruck. Nur das Kalb hinkt. Bei strengem Frost kann eine Verletzung den Tod bedeuten.
"Glücklicherweise gibt es aktuell 60 junge Kälber im Nationalpark", versucht Kim ihre Gäste zu beruhigen. Auch beginnt gerade die Brunftzeit, so dass nach achteinhalb Monaten weiterer Nachwuchs das Licht der Welt erblicken wird. Aufgrund der idealen Bedingungen vermehren sich die Tiere in Norwegen überdurchschnittlich. "Kommt Anfang Juni wieder", rät sie den Safari-Teilnehmern. "Das frische Grün lockt dann die Tiere mit ihrem Nachwuchs ins Tal ."