Der Klassenkampf in der Provinz
Ingrid Thoms-Hoffmann erinnert sich an die Schüler-Revolte am Wertheimer Gymnasium

Von Ingrid Thoms-Hoffmann
Diesen Satz muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: "Die Schülerbewegung lehnt die Schule als Anpassungsinstrument an ein formal pluralistisches, inhumanes Gesellschaftssystem ab und fordert die Auflösung von nicht legitimierter Herrschaft." Ja, so waren wir: einfach großartig. Unglaublich, dass wir das geschrieben haben, mit 17, 18 oder 19 Jahren. Und wir hatten noch viel mehr drauf. Uns ging es in den wilden Jahren Ende der 60er nicht nur um die Schule, wir, die Auserwählten, waren die Retter der Welt, des Erdballs, der BRD und unserer selbst. Als dann im Abiturzeugnis stand: "Hat sich einer Anordnung des Oberschulamtes widersetzt", was so viel hieß wie eine 6 in Betragen, trug man das erst einmal wie eine leuchtende Fackel vor sich her - um dann doch ein bisschen Schiss zu kriegen, ob dieser Eintrag wohl im künftigen Erwachsenenleben schaden würde? Hat er nicht. Dieses Bonhoeffer-Gymnasium in Wertheim hat uns, also jedenfalls einige von uns, für das spätere Leben geformt und gestählt. Für manche ging es ganz schrecklich aus, die meisten aber werden die Schuljahre als die "schönste Zeit im Leben" verklären.

Das tue ich nicht. Ich habe die Schule gehasst (noch Jahre später quälten mich Albträume von der Mathe-Prüfung), aber ich hatte das Privileg, in einer aufregenden Zeit an einem Ort zu sein, wo die sprichwörtliche Post abging. In den Jahren zwischen 1967-1970 war das Wertheimer Gymnasium nicht irgendeins in der Provinz, es machte bundesweit Schlagzeilen. Hier wurde der Radikalenerlass praktiziert, obwohl es ihn noch gar nicht gab. Erst 1972 unter (ausgerechnet!) Willy Brandt verabschiedet, nahm die Gesellschaft die Drohung von Rudi Dutschke und seinem "langen Marsch durch die Institutionen" ernst und verschanzte sich hinter Berufsverboten. Als der Studentenführer 1967 dazu aufrief, dachte noch niemand von uns an Studium oder Beruf. Aber wir hatten das von der Herrschaft des Kapitals und der sozialen Ungleichheit verstanden. Wir empörten uns über den schmutzigen Vietnamkrieg und über die Verstrickungen unserer Eltern im Nazi-Regime. Ganz allmählich bereiteten wir uns, quasi als "Schläfer in Badisch-Sibirien", auf unsere große Stunde vor.
Aber 1968 wurde der Klassenkampf erstmal verschoben. Schließlich war im gut 100 Kilometer entfernten (und für uns sehr wichtigen) Heidelberg ja auch nichts los, also konnten wir unsere Politisierung gemächlich angehen. Hier und da gab es kleine Scharmützel in der Redaktion unserer Schülerzeitung Vox. Da lernte ich auch Roland Otto kennen, der viel schrieb, der aus den studentischen Flugblättern zitierte und die Zeitschrift "Konkret" mit ihrer Leitartiklerin Ulrike Meinhof auswertete. Bei mir war nix mit Bambule. Ich war dem dunklen Einfluss meines Lieblingspoeten Georg Trakl erlegen und veröffentlichte lieber Gedichte. Das soziologische Geschwafel meiner Redaktionskollegen (ausschließlich Jungs) ließ mich ziemlich kalt.
Mich quälten ganz andere Dinge. Dass meine Mutter mein wunderhübsches Maxi-Kleid entsorgte, das ich (fast wie neu) aus einer Mülltonne gefischt hatte. Ich in Deutsch zum ersten Mal statt einer Eins eine Drei geschrieben hatte (mein von mir sehr geschätzter Deutschlehrer Wolf Wiechert kann von Glück sagen, dass ich den Gedanken, meinem jetzt sinnlosen Leben ein Ende zu setzen, nicht in die Tat umsetzte). Dass Hans-Peter nicht mich begehrte, sondern meine Freundin Ruth. Und dass ich mich den Avancen unseres Mathe-Asses Peter erwehren musste, der mir mit Eierlikör die Nachhilfestunden versüßen wollte.
Das waren doch die existenziellen Themen. Unbeeindruckt hingegen ließen mich die Ermahnungen meines Klassenlehrers, Herrn Schindler, mich mehr anzustrengen, mit dem Verweis auf vier (!) Fünfen in meinem Zwischenzeugnis. Habe das Schuljahr dann trotzdem geschafft und meine Eltern überzeugt, dass die lange Bahnfahrt zur Schule schwer auf meine Leistungen durchschlage.
1968: Ich war 17 Jahre alt und frei, hatte in Wertheim meine eigene Ein-Zimmer-Wohnung mit Küche-Klo-Duschkabine, durfte meine Entschuldigungen selber schreiben und beschloss, die Lehranstalt von nun an freitags und montags äußerst selten zu besuchen (wegen meines Freundes in Heidelberg). Endlich konnte ich das tun, was ich schon immer mit größter Leidenschaft getan habe: Lesen, lesen, lesen.
Im Sommer machten wir Party auf der "Haschwiese" im Himmelreich (heißt tatsächlich so) oder wir trafen uns in der Disco im Nachbarort. Irgendjemand steckte dann dem Rektor, dass dort kiffende Schüler gesichtet worden seien. Der regte sich schrecklich auf, aber nicht allzu lange, denn seine Tochter war auch dabei. Ich nicht, weil ich gerade allabendlich bittere Tränen um Tolstojs "Anna Karenina" vergoss.
So war eigentlich alles ganz gemütlich bis zum ganz großen Rabatz. Der holte mich aus der Literaturecke heraus und trieb mich auf die Straße. Ein bisschen hatte es sich ja schon auf einer Party angedeutet, dass der Wind künftig schärfer blasen würde.
Ein Fabrikantensöhnchen, eine Klasse über mir, hatte in das neue Wohnhaus seiner Eltern eingeladen. Nette Stimmung, bis Roland Otto anfing, die liebevoll vorbereiteten Schnittchen an die frisch gestrichenen Wände zu klatschen. Daraufhin kriegte er eins vom Vater geklatscht, was Roland mit dem Schlachtruf "Scheiß-Kapitalistenschwein" konterte. Für Roland Otto ging es später nicht gut aus. Er zog nach München, überfiel eine Bank, schloss sich schließlich der RAF an und saß jahrelang im Gefängnis. Das Erschrecken darüber kam für mich erst viele Jahre später.
Wir mühten uns Ende der 60er Jahre vielmehr mit einem Direktor alten Schlages ab, zeigten uns mit jenen linken Lehrern solidarisch, die dann später aus dem Staatsdienst flogen, und demonstrierten gegen den Bundesparteitag der rechtsradikalen NPD. Dass es soweit kam, war weniger einem theoretischen Überbau geschuldet, sondern alleine Schuldirektor Hugo Max. Der wollte nämlich einen von der SMV gewählten Schulsprecher verhindern. "Mangelnde Umgangsformen, Unreife und schlechte schulische Leistungen" wurden ins Feld geführt. Erst nach dem Protest von Schülern, Eltern und Lehrern zog der Direktor seinen Widerspruch zurück. Ganz kampflos wollte er die Arena dann doch nicht verlassen. Daran glauben mussten schließlich zwei Lehrer, die sich klar auf die Seite der Schüler gestellt hatten: Der Assessor Helmut Kommer und der Studienrat Fritz Güde. Für den beliebten Lehrer Kommer war es das Ende seiner schulischen Laufbahn. Ihm wurde während des heillosen Durcheinanders Ende 1969 vorgeworfen, nicht nur Unruhe zu stiften, sondern ein Grund für die Nichtübernahme in den Staatsdienst war auch, dass der Französisch-Lehrer sich des fachfremden Unterrichts schuldig gemacht hatte. Er ließ in seinen Klassen über die Begrifflichkeit "autoritär - Autorität" diskutieren. Das Oberschulamt Karlsruhe hatte Gründe gefunden, um einen aufsässigen Lehrer, der so gar nicht in den Beamtenapparat passen wollte, zu feuern.
Wertheim hatte einen richtig großen Skandal, die Zeitung berichtete, selbst überregionale Blätter interessierten sich plötzlich für die Provinz mit der einstmals so großen Nazi-Anhängerschaft. Eine "Unabhängige Schülerinitiative" wurde gegründet, Schülerversammlungen mit 450 Schülern fanden im Kino "Roxy" statt, Lehrerkonferenzen und Elternbeiratssitzungen ließen ratlose Pädagogen und verzweifelte Erziehungsberechtigte zurück, die Zahl der Resolutionen stieg rasant an, ein Schulstreik wurde beschlossen und bei der großen Demonstration mit über 500 Schülern forderte beim anschließenden "Teach-In" der damalige Oberbürgermeister Karl-Josef Scheuermann ganz spektakulär den Rücktritt von Direktor Max.
In diese aufgeheizten Stimmung fiel auch noch der Bundesparteitag der NPD. Intellektuell dank des "Faschismus-Seminars" vorbereitet, emotional auf Hundertachtzig, beschloss das Schülerparlament, trotz Verbotes des Oberschulamtes und der Direktion, an der DGB-Kundgebung mit Demo gegen den NPD-Parteitag teilzunehmen. Start um 11 Uhr am 14. Februar 1970. Meine Aufgabe war es, die Schüler (die Genderisierung war noch in weiter Ferne) in den verschiedenen Klassenzimmern zur Demonstration zu bewegen. Es gelang mir mäßig. Die meisten hatten wohl ein mulmiges Gefühl, schließlich stand auch jede Menge Polizei herum, die das Gymnasium absicherte. Die Hartgesottenen marschierten mit ihren roten Fahnen zur Demo - und zwecks Machtdemonstration wieder zurück vor die Schule. Die 6 in Betragen war gesetzt. Diese Aktion und meine nicht gerade vorzeigbaren Noten (außer Deutsch, Geschichte und Biologie) hätten mich fast das Abitur gekostet. Kam dann aber anders, weil es Lehrer gab, die mir wohlgesonnen waren. Nicht nur mein Deutschlehrer, sondern auch jener Fritz Güde, den wir mitten in der Nacht in seiner chaotischen Wohnung besuchen konnten, der offenbar immer in seinen Klamotten schlief, der wegen seiner linken Gesinnung eine disziplinarische Geldstrafe von 900 DM zahlen musste und dann später eines der ersten Opfer des Radikalenerlasses wurde. Verhängnisvoll für ihn: Seine 15-monatige Mitgliedschaft im maoistischen KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland). Mehr Glück hatte ein paar Jahre später Winfried Kretschmann. Ihm schadete seine KBW-Mitgliedschaft nicht. Vielleicht auch, weil er seine "68er-Sozialisation" als "fundamentalen politischen Irrtum" bezeichnete.
Das war nicht die Sache eines Fritz Güde. Der lieferte sich mit seinem berühmten Vater Max, dem ehemaligen Generalbundesanwalt und CDU-Abgeordneten, in der Schulaula ein öffentliches Streitgespräch. Da ging es um Viet-nam und die Revolution, um Klassenkampf und die Würde des Menschen. Fritz Güde klagte übrigens durch alle Instanzen gegen sein Berufsverbot. Irgendwann durfte er dann wieder unterrichten. In eine Partei trat er nie mehr ein, aber er blieb bis zu seinem Lebensende ein "linker Kämpfer".
Damals war er es, der mir sagte, dass ich das Abitur nach einiger Diskussion im Lehrerkollegium bestanden hatte. Ich fiel ihm um den Hals. Dass uns die Abiturfeier wegen unseres aufmüpfigen Betragens gestrichen wurde, nahmen wir gelassen zur Kenntnis. Dafür feierten wir drei Tage lang hoch über Wertheim in einem Naturfreundehaus, und als der Deutschlehrer uns am Morgen frische Brötchen brachte, da war die Welt wieder in Ordnung. Vier Wochen später, am 1. August, wurde Güde aus dem Staatsdienst entlassen und ich trat mein Volontariat bei der damals äußerst konservativen Rhein-Neckar-Zeitung an. Für mich hatte der "Gang durch die Institutionen" begonnen. Ein wunderbarer Gang.
Ingrid Thoms-Hoffmann, geboren 1951, besuchte von 1967 bis 1970 das Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Wertheim. Am 1. August 1970 begann sie das Volontariat bei der Rhein-Neckar-Zeitung und war zuletzt 12 Jahre Leiterin der Stadtredaktion, bevor sie vor zwei Jahren in Rente ging.