Die "zweite Schuld"
Kampf gegen Antiziganismus: Das Bundeskriminalamt stellt sich seiner historischen Verantwortung und unterzeichnet einen Kooperationsvertrag mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma.

Von Ingrid Thoms-Hoffmann
Berlin. Als Bundespräsident Roman Herzog 1996 den 27. Januar zum "Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus" erklärte, da lag die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee 51 Jahre zurück. Und die Welt kannte längst die Schreckensbilder der Leichenberge und der wenigen überlebenden Opfer, die mehr tot als lebendig die Hölle von Auschwitz überstanden hatten. Auschwitz war zum Synonym für das schrecklichste Menschheitsverbrechen der Geschichte geworden.
Mit großer Selbstverständlichkeit erinnert mittlerweile die Bundesrepublik mit ihren Repräsentanten an diesem Tag an den einmaligen Zivilisationsbruch der Nazis. An den Völkermord an sechs Millionen Juden und 500.000 Sinti und Roma. An all die Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung, oder politischen Überzeugung oder im Rahmen des Euthanasie-Programms ermordet wurden.
Doch soll diese wichtige Gedenkkultur nicht im Ritual erstarren, ist eine fortlaufende Weiterentwicklung für Gegenwart und Zukunft unabdingbar. Klare Bekenntnisse gehen leicht über die Lippen. Sollen sie sich im konkreten Handeln widerspiegeln, dann wird es schon schwerer.
Wenn der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, in Anwesenheit von Innenministerin Nancy Faeser von einem Tag mit "historischer" Bedeutung für seine Minderheit sprach, dann ist das nicht zu hoch gegriffen: Am Gedenktag unterzeichneten er für den Zentralrat und Präsident Holger Münch für das Bundeskriminalamt eine Kooperationsvereinbarung über die zukünftige Zusammenarbeit gegen Antiziganismus mit dem Beschluss von konkreten Maßnahmen. Für Rose ein "Umbruch im Umgang der Polizeibehörden mit unserer Minderheit nach 1945".
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Denn nicht nur, dass die SS und die Kriminalpolizei unter ihrem Chef Heinrich Himmler "federführend verantwortlich für die Erfassung, Ausgrenzung und Verschleppung von Sinti und Roma waren": Der Antiziganismus "ist weiterhin ein zentrales Element der gegen Sinti und Roma gerichteten diskriminierenden Praktiken", heißt es in der gemeinsamen Erklärung. Offener bekannte sich bislang noch keine Behörde zu ihrer "zweiten Schuld", wie es Münchs Vorgänger Jörg Ziercke 2011 ausdrückte, als das BKA unter seiner Federführung begann, seine unheilvolle Geschichte aufzuarbeiten und damit die Grundlage für eine "vertrauensvolle Zusammenarbeit" (Rose) legte.
Denn zur historischen Wahrheit gehört auch, so Rose in seiner Rede in der Berliner BKA-Zentrale, dass "viele Täter aus der NS-Zeit nach dem Krieg im deutschen Polizeiapparat – auch im BKA – weiterbeschäftigt wurden, darunter auch ehemalige SS-Angehörige, wodurch antiziganistische Denkmuster innerhalb der Behörden über Jahrzehnte überdauern konnten." Die fortgesetzte Stigmatisierung mit ihren polizeilichen Sondererfassungen habe die Minderheit in der Öffentlichkeit "vollkommen chancenlos gemacht und an den Rand der Gesellschaft gedrängt".
Jetzt sind sich Zentralrat und BKA einig: "Gemeinsam gegen jegliche Diskriminierung und Ausgrenzung von Sinti und Roma entgegenzuwirken und für den gesellschaftlichen Antiziganismus zu sensibilisieren und diesen zu ächten." Auch in den Polizeibehörden.
Dazu wurde festgeschrieben, dass die Abstammung nicht zum "Kriterium der polizeilichen Arbeit gemacht wird", dass es künftig Fort-und Weiterbildung für alle Beschäftigten der Behörde zur Geschichte der Sinti und Roma geben wird. Entwickelt vom Bildungsforum des Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg. Auch soll die bereits seit Jahren bestehende Zusammenarbeit mit der Hochschule des BKA im Rahmen des Studiums verstetigt werden.
Dass sich das BKA mit seiner Selbstverpflichtung hinter die Arbeitsdefinition von Antiziganismus der "International Holocaust Remembrance Alliance" stellt, gibt Rose ein "Gefühl der Sicherheit, dass der Rechtsstaat auf meiner Seite ist". Für ihn nimmt der "Staat seine Vorbildfunktion ernst, als Auftrag aus der Gesellschaft den Antiziganismus genauso zu ächten wie den Antisemitismus".
Nach einem Gedenkgottesdienst im Berliner Dom am morgigen Sonntag wird auch die Evangelische Kirche erstmals offiziell ihre Zusammenarbeit mit dem Zentralrat und dem Netzwerk "Sinti, Roma und Kirchen" verfestigen. Prälatin Anne Gidion, Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, wird die Erklärung des Rates der EKD zur Bekämpfung von Antiziganismus an Romani Rose übergeben.
Ein weiterer Schritt, die lange, leidvolle Geschichte der Sinti und Roma aufzuarbeiten, wozu auch die Kirchen geschwiegen hatten. Jetzt verspricht die EKD den Antiziganismus "im Alltag von Kirche und Gesellschaft" zu bekämpfen und die "Partizipation von Sinti und Roma in Politik und Gesellschaft zu stärken".
Der 27. Januar 2023 steht 78 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz nicht nur für das Erinnern an die Opfer des millionenfachen Mordens, sondern auch für die bis in die Gegenwart notwendige Auseinandersetzung damit. "Wir müssen Gedenken als Aufforderung begreifen, für den Erhalt unserer freiheitlichen Grundordnung einzustehen und gemeinsam daran erinnern, welche Folgen Antiziganismus, Antisemitismus und jede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit für die direkt Betroffenen, aber auch für uns als gesamte Gesellschaft haben", sagte Rose am Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas. Auch BKA-Präsident Holger Münch legte einen Kranz nieder.