Von Sebastian Riemer und Holger Buchwald
Heidelberg. Es ist einer der letzten offiziellen Termine von Oberbürgermeister Eckart Würzner in einem verrückten Krisenjahr: das Jahresabschluss-Interview mit der Rhein-Neckar-Zeitung. Angesichts der hohen Infektionszahlen muss auch das Stadtoberhaupt seine Kontakte einschränken und hat die meisten anderen Treffen abgesagt. Alle tragen FFP2-Masken, und im ersten Teil des Gesprächs gibt es nur ein Thema: Corona und die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen.
Herr Würzner, zum Start unseres Jahresabschlussinterviews drei Satzanfänge, die Sie ergänzen dürfen. Los geht’s: Die größten Alltagshelden in der Corona-Krise sind für mich ...
... die vielen Tausend Ehrenamtlichen, die in der Krise mit angepackt haben.
Von Videokonferenzen bekomme ich ...
... langsam graue Haare.
Wenn die Corona-Verordnung der Landesregierung mal wieder auf den letzten Drücker kommt, denke ich ...
... gar nichts mehr. Ich bin es schon gewohnt. Ich habe den Glauben verloren, dass das noch einmal anders wird.
Herr Würzner, für uns alle war das ein unglaubliches, für viele ein schlimmes Jahr. Wie war es für den Oberbürgermeister der Stadt Heidelberg?
Ich war permanent im Krisenmodus. Wir haben im Krisenstab quasi ständig Feuerwehr gespielt. Gleichzeitig bereitet man sich mit Hochdruck auf die nächste Lage vor. So etwas kannte ich bisher aus einzelnen Situationen, die vielleicht mal einen Tag andauern – aber nicht Wochen oder gar Monate.
Dabei ging es und geht es um Menschenleben, um wirtschaftliche Existenzen. Wie halten Sie denn diesem Druck als oberster Krisenmanager Heidelbergs stand?
Ich bin jetzt 14 Jahre Oberbürgermeister. Ich kenne meine Stadt, kenne die Menschen und kann mit dieser Situation umgehen. Was mich aber schon umgetrieben hat, ist, wenn nicht zeitnah reagiert wurde, obwohl die Faktenlage eindeutig war.
Was meinen Sie damit?
Etwa die zögerliche Haltung zu Schutzmasken, die wir in Deutschland im Frühjahr hatten. Da waren wir in Heidelberg Vorreiter, haben vor Bund und Land die Maskenpflicht an Schulen eingeführt – und ich musste unvorstellbare Diskussionen führen, auch mit einzelnen Lehrkräften, die keine Maske im Unterricht tragen wollten.
Heidelberg ist bisher besser durch die Krise gekommen als andere, hat niedrigere Infektionszahlen als Mannheim, der Rhein-Neckar-Kreis oder Heilbronn. Wie erklären Sie sich das?
Wir haben eine Bevölkerung, die die Sensibilität und das Wissen hat, die harten Maßnahmen mitzutragen. Und wir haben einige Dinge zusätzlich gemacht, etwa beim Schutz älterer Menschen in den Pflegeheimen. Auch da haben wir uns frühzeitig gekümmert und auf eigenen Lieferwegen Masken beschafft.
Hat das Land in der Frühphase der Pandemie im März und April aus Ihrer Sicht versagt?
Nein, das möchte ich nicht sagen. Mich hat es aber schon erstaunt, dass Bund und Länder manchmal nicht in der Lage waren, rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Plötzlich standen die niedergelassenen Ärzte ohne Masken dar. Wären wir nicht so früh selbst als Kommune aktiv geworden und hätten eigene Lieferungen aus China organisiert, hätten Praxen, Rettungsdienste oder Pflegestationen ausfallen können.
Was ist Ihre Lehre aus diesem Corona-Jahr?
Dass unser dezentrales System in Deutschland funktioniert, weil die Akteure vor Ort wissen, was zu tun ist. Ganz zentral sind auch die Ehrenamtlichen: Ob Feuerwehr, DRK, Johanniter oder Malteser – da stehen pro Einheit sofort 200 bis 300 engagierte Einsatzkräfte bereit. Die sind gut ausgebildet, motiviert und wissen, was zu tun ist. Mit ihnen gelingt es, binnen Stunden Tausende Masken zu verteilen. Oder man baut ein Impfzentrum in Patrick-Henry-Village in nur einer Woche auf, komplett mit Raumluft- und Brandschutzanlage. Und wir haben mit dem Universitätsklinikum den besten Partner an dieser Stelle, den man sich nur wünschen kann.
Apropos Impfen: Wann sind Sie eigentlich an der Reihe?
Erst einmal sind unsere Ärztinnen und Ärzte, die Pflegekräfte und die am meisten Gefährdeten dran. Ich drängle mich nicht vor. Aber wenn ich dann dran bin, freue ich mich sehr – und mache natürlich mit.
Heidelberg lebe kontinuierlich über seine Verhältnisse, hat Finanzbürgermeister Heiß schon 2019 gewarnt. Jetzt macht die Stadt wegen Corona noch einmal doppelt so viele Schulden wie geplant. Wo kann Heidelberg im kommenden Haushalt noch sparen?
Es stimmt schon: Mit einer Neuverschuldung von 50 Millionen Euro würden wir in normalen Zeiten keinen Haushalt genehmigt bekommen. Aber wichtig ist mir, wo wir auf keinen Fall sparen sollten: Dort, wo wir Arbeitsplätze schaffen und sichern können. Die Zukunftsinvestitionen – etwa in unseren neuen Stadtteil in PHV – müssen weitergehen. Zurückhalten müssen wir uns bei Festen, Feiern und anderen Geldern, die dann einfach weg sind. Was wir in dem Bereich jedes Jahr gemacht haben, sollten wir jetzt nur noch alle zwei Jahre machen.
Was ist mit dem sozialen Bereich, wo es um jene geht, die mit am stärksten von der Pandemie betroffen sind?
Der Sozialhaushalt muss an Corona angepasst werden – das heißt, er wird mit Sicherheit steigen. Dort dürfen wir auf keinen Fall den Rotstift ansetzen. Ein Beispiel: Die Unterkünfte für Obdachlose können wegen Corona weniger belegt werden. Also mieten wir im Winter Hotels für die Menschen an, damit alle unterkommen. An diesem Engagement dürfen wir nicht sparen.
Aber wo kann man dann sparen?
Wir wollen nicht mehr alles bis ins Kleinste regeln. Wir müssen Genehmigungsverfahren vereinfachen. Das entlastet die Verwaltung – und die Unternehmen. Die Stadt muss nicht alles bis auf den letzten Quadratmeter kontrollieren. Nachdem der Staat dieses Jahr so dominant sein musste, sollte er sich jetzt ohnehin etwas zurückziehen. Die Farbe des Gartenzauns ist nicht Sache des Staates.
Der Kampf gegen Corona rückt den Kampf gegen den Klimawandel in den Hintergrund. Muss der jetzt erst mal warten?
Der globale Klimaschutz ist noch immer unsere größte Herausforderung. Der Klimawandel destabilisiert ganze Regionen, löst gewaltige Migrationsströme aus. Dieser Kampf kann nicht warten.
Doch Klimaschutz ist teuer – etwa der Ausbau des ÖPNV. Kann und wird Heidelberg sich das jetzt noch leisten?
Unsere wichtigste Klimaschutzmaßnahme des Jahres war, dass sich unsere Stadtwerke an einem großen Wind- und Solarpark beteiligen. Allein der Solarpark wird über 60 Fußballfelder groß – weit größer als alle Solaranlagen, die wir in Heidelberg haben. Das ist echter Klimaschutz – und diesen Weg gehen wir weiter.
Und was ist mit dem Ausbau des ÖPNV?
Wir stecken jedes Jahr mehr Geld rein, haben mehr Fahrzeuge, mehr Kapazitäten – aber deshalb nicht unbedingt mehr Fahrgäste. Um da wirklich nachhaltig weiterzukommen, brauchen wir ein grundsätzlich anderes Finanzierungsmodell: Der Bund muss den öffentlichen Nahverkehr stärker finanzieren.
Viele kommunalpolitische Themen wurden in diesem Jahr von der Corona-Pandemie überschattet. Doch insbesondere der Streit um die Verlagerung des Ankunftszentrums in die Wolfsgärten sorgte 2020 für Schlagzeilen. Im zweiten Teil des Jahresabschluss-Interviews erklärt Oberbürgermeister Eckart Würzner, warum er die Haltung von Wissenschaftsministerin Theresia Bauer "schräg" findet.
Der Streit ums Ankunftszentrum zeigt, dass der Gemeinderat kaum noch wichtige Entscheidungen treffen kann, ohne dass ein Teil der Bevölkerung versucht, diese zu kippen. Woran liegt das?
Das ist in vielen deutschen Städten so, es ist kein Heidelberger Spezifikum. Mein Hauptkritikpunkt am Bürgerentscheid ist die gestellte Frage: Sie ist zu simpel. Die richtige Frage müsste lauten: "Sind Sie gegen eine Verlagerung des Ankunftszentrums in die Wolfsgärten, obwohl der Pfaffengrund gegen das Airfield, Kirchheim gegen den Gäulschlag und der Gemeinderat gegen einen Verbleib in Patrick-Henry-Village ist und wir somit keine andere Fläche haben?" Würde die Frage so gestellt, hätten viele der Unterzeichner das Bürgerbegehren gar nicht unterschrieben.
Letztes Jahr die große Debatte um den Betriebshof-Standort, dieses Jahr das Hin und Her um die Verlagerung des Ankunftszentrums. Wie ist aktuell Ihr Verhältnis zu den Grünen?
Die Grünen sind die weitaus größte Fraktion und haben einen klaren gestalterischen Anspruch, der berechtigt ist. Man muss in dieser Position aber auch Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen. Die Grünen haben mehrheitlich für die Verlagerung des Zentrums in die Wolfsgärten gestimmt – und wurden dann unsicher, als Kritik aufkam. Allen gerecht zu werden, geht aber nicht.
Warum kann das Ankunftszentrum nicht einfach in PHV bleiben?
PHV braucht eine Mindestgröße, um als eigenständiger Stadtteil zu funktionieren. Ein eingezäuntes Ankunftszentrum passt da nicht rein. PHV ist etwa so groß wie die Altstadt. Da kommt doch auch niemand auf die Idee, ein eingezäuntes und bewachtes Areal abzutrennen. Das würde flächenmäßig vom Rathaus bis über den Uniplatz reichen. Verlegen wir es dagegen – wie vom Gemeinderat beschlossen – in die Wolfsgärten, hat es dort den notwendigen Raum für einen vorbildlichen Neubau, und all die hauptamtlichen Flüchtlingshelfer können in Heidelberg wohnen bleiben.
Aber Sie müssen doch zugeben: Ein Gelände zwischen Bahngleisen und der Autobahn ist nicht optimal.
Würden wir die Wolfsgärten als Wohngebiet deklarieren, wäre das überhaupt nicht problematisch. Der Lärmschutz ist leichter umzusetzen als in Teilen des Pfaffengrunds oder Wieblingens. Selbst als Einfamilienhaussiedlung hätte dieses Quartier Qualitäten. Haben sich die Unterzeichner des Bürgerbegehrens jemals das Gelände angeschaut? Was soll daran schlecht sein? Die Bedingungen sind wahrlich nicht schlechter als im jüngsten Neubaugebiet in Wieblingen, dem Schollengewann. An der Lärmschutzwand dort habe ich eine höhere Lärmbelastung als in den Wolfsgärten.
Wenn der Bürgerentscheid erfolgreich sein sollte – was dann?
Dann müsste ich dem Land sagen, dass wir keine Fläche haben. Dabei will die grün-schwarze Landesregierung diese Fläche, die Wolfsgärten, auch der Ministerpräsident, der seinen Mitarbeitern viel Druck macht, damit das ein Vorzeige-Ankunftszentrum wird. Zu behaupten, dass Winfried Kretschmann etwas Menschenunwürdiges bauen will, das ist schon ein starkes Stück.
Heidelbergs Grünen-Landtagsabgeordnete und Wissenschaftsministerin Theresia Bauer sieht allerdings noch Klärungsbedarf.
Ihre Äußerung war für mich unerträglich. Sie widerspricht als Mitglied der Regierung dem Wunsch von Winfried Kretschmann. Aber statt das mit ihm auszutragen, geht sie mich an, als ob das Ankunftszentrum mein Projekt wäre. Da muss ich sagen: Das finde ich schräg. Das Ankunftszentrum ist eine Landeseinrichtung. Die Landesregierung möchte ihr Zentrum genau an dieser Stelle bauen. Das Land hat ausdrücklich gedankt, dass unser Gemeinderat ihm diese Fläche zur Verfügung stellt. Keine andere Stadt in ganz Baden-Württemberg ist dazu bereit. Aber vielleicht hat die Ministerin ja andere Kommunen in der Hinterhand, die ihr eine noch bessere Fläche bieten. Das würde erklären, warum sie die Perspektive für die Einrichtung in ihrem Wahlkreis aufs Spiel setzt.
Mal ganz unabhängig vom Ankunftszentrum: Wirtschaft, Sport, bezahlbares Wohnen – alle möglichen Interessenvertreter melden gerade Ansprüche auf das PHV an. Was ist Ihnen persönlich bei der Entwicklung von Heidelbergs 16. Stadtteil am wichtigsten?
Dass er klimaneutral wird oder sogar einen Energieüberschuss produziert. Dass es ein lebenswerter Stadtteil wird, besonders für junge Menschen und Familien. Früher brauchte man eine Kirche, einen Bäcker, einen Supermarkt. Inzwischen brauchen wir ein bisschen mehr – und dafür brauchen wir eine Mindestgröße. Sonst wird es nur eine Ansammlung von Häusern.
Anderes Thema. Wie kommen Sie mit Ihrem neuen Kollegen, Klima- und Verkehrsbürgermeister Raoul Schmidt-Lamontain klar?
Sehr gut. Er hat sich schnell eingearbeitet. Die Bündelung von Klima und Verkehr in seinem Dezernat geht voll auf. Er ist außerdem ein netter Kerl. Ich habe ihn wegen Corona noch nicht so häufig getroffen, aber die Zusammenarbeit funktioniert auch so.
Wird das 2022 Ihr Gegenkandidat bei der OB-Wahl?
Ah, das weiß ich nicht. Heidelberg ist eine attraktive Stadt. Da erwarte ich, dass es etliche qualifizierte Kandidatinnen und Kandidaten gibt, die sich bewerben. Aber mir macht das Spaß, ich liebe diese Stadt und setze mich mit Leidenschaft für sie ein. Und ich glaube, es ist mir bisher recht gut gelungen, zwischen den unterschiedlichen Parteien und Interessen einen Ausgleich zu schaffen. Ich denke, es hat seine Vorteile, wenn in dieser Lage ein Parteiunabhängiger die Stadt regiert.
Vor einem Jahr waren Sie sicher, 2022 das Eröffnungskonzert des "Heidelberger Frühling" in der Stadthalle zu erleben. Zuletzt hieß es, die Sanierung ist frühestens im November 2022 fertig. Wie sieht der aktuelle Zeitplan aus?
Wir arbeiten konsequent an der Sanierung weiter. Es gibt aber den ein oder anderen, der das gerne anders hätte. Das ist nicht immer hilfreich, weil immer wieder neue Verfahrensschleifen ausgelöst werden. Das bringt niemanden auch nur einen Millimeter weiter. Es ist ärgerlich, weil wir uns im Vorfeld viele Gedanken gemacht haben und das höchste politische Gremium der Stadt, der Gemeinderat, den Sanierungsplänen zugestimmt hat.
Und wann ist Eröffnung?
Ich hoffe, so zeitnah wie möglich, denn wir brauchen unser Kulturhaus zurück – und zwar saniert. Ich bin froh, dass wir das über Spenden finanzieren können, denn sonst würde es einfach leer stehen. Diese Kosten könnten wir alleine nicht stemmen.
Zum Abschluss noch vier Sätze, die Sie ergänzen dürfen. Als junger Mensch würde ich abends zum Feiern ...
... mit Freunden in eine Kneipe oder in einen guten Jazzclub gehen. Aber es stimmt, es ist für junge Leute deutlich schwieriger geworden, weil es kaum noch Clubs gibt.
Der schönste Moment 2020 war ...
... als es einem Familienangehörigen endlich wieder besser ging. Mehr will ich dazu aber jetzt nicht sagen.
Meinen OB-Wahlkampf 2022 beginne ich am ...
Wenn es die Zeit gebietet. Aber so weit denke ich noch nicht. Aktuell steht die Bewältigung der Pandemie im Vordergrund.
2021 wird...
... auf jeden Fall ein Jahr, das wieder Hoffnung gibt, weil wir auch dank des Impfstoffes ein Wiederaufleben der Wirtschaft und der zwischenmenschlichen Kontakte erleben werden.