Polizei sollte bei Jugendlichen auf der Neckarwiese ein Auge zudrücken
"Das muss ein Rechtsstaat abkönnen", meint Christian Laue. "Null Toleranz" ist für den Kriminologen die falsche Polizeitaktik. Denn das könnte die Stimmung noch mehr aufheizen.

Von Holger Buchwald
Heidelberg. Bei Beleidigungen und kleineren Provokationen durch Jugendliche und Heranwachsende sollte die Polizei häufiger mal ein Auge und Ohr zudrücken, meint Christian Laue. Der 57-jährige Rechtsanwalt ist außerplanmäßiger Professor am Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg und Mitglied im Sprecherrat der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen. Ein Gespräch über eine aufgeheizte Stimmung, Aufenthaltsverbote und die richtige Taktik der Ordnungshüter.
Herr Laue, bereits mehrfach kritisierten Sie öffentlich die Polizeitaktik nach den Pfingstkrawallen auf der Neckarwiese. Warum?
Weil ich den Eindruck habe, dass da ein wiederkehrendes Ablaufmuster zu erkennen ist: Die Polizei hat nach längerer Lockdownphase und in einer ohnehin schon aufgeheizten Stimmung auch bei kleineren Verstößen eingegriffen – und dabei haben sich Jugendliche mit den Kontrollierten solidarisiert. Vorletzten Samstag war das auch in der Altstadt wieder zu beobachten. Nach massiven Beleidigungen gegen Polizisten ist es weiter eskaliert. Das steht in meinen Augen in Diskrepanz zum Verhalten der Sicherheitskräfte am Rande von "Querdenker"-Demos. Als Hunderte oder gar Tausende demonstrativ alle Infektionsschutzmaßnahmen ignoriert haben, haben die Beamten bewusst nicht eingegriffen, damit die Situation nicht eskaliert. Selbst wenn Journalisten angegangen wurden.

Nun ist es aber so, dass gerade in der Nacht zum Pfingstsonntag die Polizei sehr spät eingegriffen hat. Die Beamten ließen das Geschehen lange laufen - erst um 1.10 Uhr schritten sie wegen einer zu lauten Musikanlage ein. Sie forderten die Jugendlichen auf, sie auszumachen, und wurden sogleich attackiert.
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In solchen Situationen muss die Polizei abwägen, ob sich ein Eingreifen lohnt. Ich weiß, es ist immer schwer, die Situation richtig einzuschätzen. Die Ordnungskräfte haben die Krawalle sicher nicht verschuldet, möglicherweise aber mit ausgelöst.
Sie ziehen Vergleiche mit Demonstrationen von "Querdenkern": In Heidelberg wurden bei solchen keine Personen attackiert oder direkt gestört. Daher ist es doch klar, dass es unverhältnismäßig wäre, solch eine Kundgebung brachial aufzulösen.
Ich denke auch eher an Großdemos wie in Stuttgart, die auf dem Höhepunkt der zweiten und dritten Welle schon eine Gefährdung der Allgemeinheit dargestellt haben.
Übersetzt auf die Vorkommnisse auf der Neckarwiese würde das heißen: Kein Problem, die Anwohner dürfen sich ruhig von lärmendem Feiervolk terrorisieren lassen.
Nein. Ich habe keine Patentlösung und war in dieser Nacht nicht dabei. Ich sage auch nicht, dass das Verhalten der Polizei grundlegend falsch war. Ich will nur auf die Diskrepanz hinweise: hartes Eingreifen hier, lasches Vorgehen da.
Auch dieses Wochenende hat die Polizei aber doch auf der Neckarwiese erst eingegriffen, als es schon zu Körperverletzungen unter den Besuchern gekommen war.
Ja, da muss sie natürlich einschreiten. In meinen Augen hat sie da alles richtig gemacht.
Auf was beziehen Sie sich dann?
Auf eine Äußerung des Polizeisprechers, dass man mit noch mehr Polizeipräsenz Krawalle im Keim ersticken wolle. Schon bei einer Beleidigung hart einzusteigen, halte ich aber für eine falsche Taktik.
Wenn Polizisten mit ACAB – "All cops are bastards" – tituliert werden, würden Sie das also ignorieren?
Das muss ein Rechtsstaat abkönnen. Die Frage, die sich Polizisten stellen müssen, ist doch folgende: Muss ich meinen Kollegen vehement Respekt verschaffen und nehme dadurch in Kauf, dass sich andere mit dem Beleidiger solidarisieren und es in der Folge zu schweren Straftaten wie Körperverletzungen und Landfriedensbruch kommt? Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Damit will ich nicht sagen, dass Gewaltexzesse und Angriffe auf Polizeibeamte zu entschuldigen sind.
Woran machen Sie es überhaupt fest, dass es offenbar bei manchen dieses Aggressionspotenzial gibt?
Die Jugendlichen stehen seit Monaten unter einer sehr großen Belastung. Manche von ihnen wohnen eben nicht in einem großen Haus mit Garten, sondern vielleicht zu fünft in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Wenn es dann heißt, die dritte Welle ist überwunden, ihr dürft wieder raus und am Leben teilhaben, verstehen sie es nicht, wenn die Polizei ihnen das verbietet.
Was schlagen Sie in solch einer Situation vor?
In Stuttgart sind mittlerweile zivile Streifen am Schlossplatz unterwegs, die mit den Jugendlichen das Gespräch suchen. Das scheint ganz gut zu funktionieren, auch wenn sicherlich nicht alle Jugendlichen empfänglich dafür sind.
In Heidelberg ist es auf der Neckarwiese aber auch ruhiger geworden, nachdem die Polizei nach Pfingsten ihre Präsenz verstärkt hat und seitdem das nächtliche Aufenthaltsverbot der Stadt konsequent durchsetzt.
Das ist für den Anfang sicherlich auch ein guter Weg. Begrenzt auf ein paar Wochen, halte ich das Aufenthaltsverbot für eine richtige Taktik. Ich hoffe, dass sich die Situation von selbst ein bisschen beruhigt. Bei dem Posing und den Krawallen könnte es sich um eine vorübergehende Mode handeln.
In der Diskussion für eine neue Satzung des Neckarvorlandes ist auch eine Awareness-Kampage in der Diskussion, dass also die Besucher gezielt auf ein friedliches Miteinander hingewiesen werden.
So etwas ist immer gut. Die Neuenheimer Neckarwiese ist ein öffentlicher Ort, es gibt Anwohner. Da ist es auch selbstverständlich, dass die Lautstärke ab einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmtes Niveau nicht überschreiten darf. Sie darf kein rechtsfreier Raum sein, in dem Jugendliche glauben, dass sie sich alles erlauben dürfen.