"Friedensglocke" hat ausgeläutet

Heidelberger Original musste Kongresszentrum weichen

Restaurant lockte bis Anfang des Jahres an den Rand der Bahnstadt

31.08.2018 UPDATE: 01.09.2018 06:00 Uhr 2 Minuten, 53 Sekunden
Anfang des Jahres wurden die Bäume am Biergarten kurzfristig gefällt. Seitdem verfällt das Areal zunehmend, bald dürften die Abrissarbeiten beginnen. "Fuck gentrification" hat jemand an die Wand gesprüht. Fotos: von Offenberg

Von Volker von Offenberg

Heidelberg. Noch im Sommer 2017 konnte man unter prächtigen, schattigen Bäumen im Biergarten der "Friedensglocke" sitzen. Hier in der Güteramtsstraße, inzwischen in Max-Jarecki-Straße umbenannt, verspeisten die Gäste ihr preiswertes Schnitzel und tranken ein kühles Bier der Heidelberger Brauerei.

Doch in diesem Sommer herrscht Öde und Kahlschlag. Die Bäume sind gefällt, die Sträucher rausgerissen, die Wirtschaft geschlossen, das Haus entmietet. Das Areal gammelt vor sich hin. "Fuck gentrification" hat jemand an die Wand gesprüht.

Dass das Haus dem neuen Kongresszentrum im Wege steht und irgendwann die Bagger anrücken würden, war klar. Doch dann sollte plötzlich alles sehr schnell über die Bühne gehen. Pächterin Hannelore Büttner, über 40 Jahre lang die "gute Seele" des Hauses, musste um die Jahreswende überstürzt Gaststätte und Wohnung frei machen. Das Personal stand auf der Straße.

Und eines Tages im Februar erlebte die Pächterin eine unschöne Überraschung. Kurzfristig waren die Bäume gefällt und der Biergarten zerstört worden, bevor sie die von ihr selbst angepflanzten Gewächse retten konnte. Wenigstens ihre Lavendelbüsche und die Rosensträucher hätte sie gerne ausgegraben und in ihr neues Lokal nach Hockenheim mitgenommen.

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Architektonisch gesehen ist es schade, dass dieser Solitär, der seit über 100 Jahren an der Straßenecke steht, abgerissen wird. Denn selbst im mittlerweile heruntergekommenen Zustand sieht man ihm an, dass es einmal ein repräsentatives Gebäude war.

Gebaut wurde es zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem für Heidelberg großstädtisch wirkenden Stil. Das Areal war ein zukunftsträchtiges Entwicklungsgebiet. Hier sollte der neue Durchgangsbahnhof den alten Sackbahnhof im Stadtzentrum ersetzen. Niemand ahnte, dass es zwei Weltkriege dauern würde, bis die Verlegung 1955 tatsächlich erfolgte.

Der alte Bahnhof, vorher an der heutigen Kurfürstenanlage gelegen, wurde 1914 ins Neubaugebiet verlegt. Wo heute die Montpellierbrücke steht, wurde die aus einer Eisenkonstruktion bestehende "Dreibogenbrücke" gebaut. Dass das neue Wohnhaus mit Wirtschaft im Erdgeschoss auf Zuwachs wartete, sieht man ihm an. Es war wohl als Eckhaus einer Häuserreihe gedacht. Doch der Erste Weltkrieg stoppte alle Baupläne.

Der erste Wirt war Georg Klenk, seit 1917 stand die "Friedensglocke" unter diesem Namen im Adressbuch. Zeitpunkt und Namensgebung waren bemerkenswert: Denn in diesem Jahr schwand die anfängliche Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich merklich, die Friedenssehnsucht wuchs.

Der Name des Lokals stand auch in Kontrast zu den militaristischen Bezeichnungen in der näheren Umgebung. "Kriegskurve" hieß das Umgehungsgleis für den alten Hauptbahnhof. Eben diesen Namen führte auch ein Gasthaus an der Ecke Wörthstraße / Belfortstraße. Diese beiden Straßen wiederum erinnerten an den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Die "Friedensglocke" kam in Folge der Wirtschaftskrise 1929 in die Hand der Heidelberger Actienbrauerei, später dann an die Schlossquell-Brauerei, die es noch vor der Jahrtausendwende weiterverkaufte.

Als junge Frau hatte Hannelore Büttner 1976 die Wirtschaft übernommen und mit ihren Mitarbeitern, von denen einige auch schon seit Jahrzehnten dabei waren, geführt. Dabei musste sie sich in einem Umfeld behaupten, das in Heidelberg nicht immer den besten Ruf hatte.

Auf dem Grundstück entsteht bald das neue Kongresszentrum der Stadt. Fotos: von Offenberg

Doch das Publikum der "Friedensglocke" war bunt gemischt. Zu Büttner kamen Bahnarbeiter, Zollbedienstete, Handwerker, Fernfahrer, Studenten, Bürger aus Bergheim und der Weststadt, hier stationierte US-Amerikaner, Reisegruppen und auch der eine oder andere Freier aus den in der Nachbarschaft befindlichen Bordellen.

Auf dem alten Messplatz war der weithin bekannte Straßenstrich. Doch eine "Rotlicht-Kneipe" war die Wirtschaft nicht. Wenn gewisse Damen mal in zu freizügiger Kleidung im Lokal erschienen, wurden sie von der Wirtin zurechtgewiesen. Mit Erfolg - Büttner war eine Autorität. Ernsthafte Probleme mit der Kundschaft gab es nie.

Zeitweise waren Milchzentrale, Schlachthof und Gewerbebetriebe - etwa ein Tortenversand, eine Baustofffirma und ein Gartencenter - in der Umgebung. Auch von diesen Betrieben kamen Stammgäste, genossen gutbürgerliche Küche und fühlten sich gut aufgehoben.

Die "Friedensglocke" erwies sich auch als immun gegen Trends. Sie blieb ihrem Stil treu. Die Inneneinrichtung hatte schon einige Jahre auf dem Buckel, widerstand einer Modernisierung und verströmte mit ihrem leicht antiquierten Touch Gemütlichkeit und Charme. Der idyllische Biergarten lockte Gäste an. Die Preise für Speisen und Getränke waren und blieben niedrig.

Doch die Entwicklungen im Umfeld des Lokals zeigten Wirkung. Das Aus für den Güterbahnhof, der Wegzug der Gewerbebetriebe und die jahrelangen Baustellen in der Umgebung ließen die Kundschaft schrumpfen. Das neue, junge und hippe Publikum der Bahnstadt ging eher nicht in die "Friedensglocke", die zunehmend wie eine übergebliebene Insel im Meer "moderner" Urbanität wirkte.

Nun ist das Gasthaus nach 100-jähriger Existenz also Geschichte. Die "Friedensglocke" hat ausgeläutet, der letzte "Halbe" ist geleert. Und mit der Gastwirtschaft verschwand ein authentisches Stück des alten Heidelbergs.

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