Frühförderstellen für Kinder

Warum Heidelberg "unrühmliches Schlusslicht im Land" ist

Valentina Schenk, die ehemalige Leiterin der Pusteblume-Kindergärten, kämpft für eine Interdisziplinäre Frühförderstelle. Viele Kinder seien im Moment nicht versorgt.

08.12.2024 UPDATE: 08.12.2024 04:00 Uhr 3 Minuten, 24 Sekunden
Symbolfoto: dpa
Interview
Interview
Valentina Schenk
Leitete 30 Jahre lang die inklusiven Pusteblumen-Kindergärten in Rohrbach

Von Anica Edinger

Heidelberg. Valentina Schenk leitete 30 Jahre lang die inklusiven Pusteblumen-Kindergärten in Rohrbach – nun widmet sie sich einem neuen Projekt: einer Interdisziplinären Frühförderstelle (IFF) in Heidelberg und dem Rhein-Neckar-Kreis.

Diese sei hier längst überfällig, berichtete Schenk, die für die Grün-Alternative-Liste (GAL) in Rohrbach im Bezirksbeirat sitzt, schon im Sommer im Gespräch mit der RNZ. Im Interview erklärt sie nun, wieso.

Frau Schenk, warum benötigt Heidelberg eine Interdisziplinäre Frühförderstelle?

In einer Interdisziplinären Frühförderstelle arbeiten psychologische, heilpädagogische, physiotherapeutische, ergotherapeutische, und logopädische Fachkräfte zusammen, dadurch ermöglichen sie die schnellste, ganzheitliche Unterstützung für Kinder und ihre Familien. Ich habe mal recherchiert: In Heidelberg gibt es rund 10.000 Kinder zwischen null und sechs Jahren. Forschungsergebnisse sprechen davon, dass fünf bis acht Kinder von 100 eine Entwicklungsstörung aufzeigen. Das wären in Heidelberg 500 bis 800 Kinder. Allein aufgrund dieser Zahlen benötigt Heidelberg eine Interdisziplinäre Frühförderstelle.

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Was kann eine Interdisziplinäre Frühförderstelle denn leisten, was die bereits bestehenden Frühförderstellen nicht leisten können?

Eine Interdisziplinäre Frühförderstelle kann ein niederschwelliges Angebot machen. Ein Beispiel: Eine Mama wundert sich, dass ihr Kind nicht so gut spricht wie die anderen Kinder, und auch die motorische Entwicklung scheint verzögert. Häufig geht der erste Gang dann zum Kinderarzt, der verweist vielleicht an eine Logopädin und empfiehlt auch Physiotherapie.

Bis Sie da jeweils einen Termin bekommen, geht schon mal ein viertel bis halbes Jahr ins Land. Eine Interdisziplinäre Frühförderstelle kann gerade bei solchen Unsicherheiten auch eine Lotsenfunktion bieten. Denn häufig verlieren sich Eltern in der Förderlandschaft, werden frustriert und ohnmächtig.

Bei der Interdisziplinäre Frühförderstelle kann man einfach anrufen, seine Sorgen schildern – und wird dann entweder weitergeleitet oder zum Erstgespräch eingeladen. Man schickt die Eltern nicht auf eine Odyssee, man bietet alles aus einer Hand an, man denkt die ganze Familie mit und bietet auch den Eltern etwa psychologische Unterstützung.

Wie geht es nach dem Erstgespräch weiter?

Wird der Förderbedarf festgestellt, wird in Kooperation mit dem Kinderarzt ein interdisziplinärer Behandlungsplan erstellt – für ein Jahr. Die Finanzierung ist durch Krankenkasse und Eingliederungshilfe gesichert, die Eltern haben erst einmal Ruhe.

Vielleicht benötigt das Kind dreimal in der Woche Heilpädagogik, vielleicht zusätzlich Logopädie. Das soll alles in der Interdisziplinäre Frühförderstelle oder beim Hausbesuch passieren. Wichtig ist dabei: Die Interdisziplinäre Frühförderstelle ist keine Konkurrenz zum Kinderarzt, zum Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) der Universitätsklinik oder zu den sonderpädagogischen Frühförderstellen an Schulen.

Nein?

Auf keinen Fall. Nehmen wir das Sozialpädiatrische Zentrum: Das ist ein Diagnosezentrum, Frühförderung wird dort nicht gemacht. Die Eltern erfahren nach der Diagnose häufig einen Versorgungsabbruch. Und die sonderpädagogischen Frühförderstellen an Schulen sind eben an Schulen angegliedert, in Heidelberg etwa an der Graf-von-Galen-Schulen.

Das sind Lehrer, die für wenige Stunden für die Frühförderung abgeordnet sind. Häufig sind die Wartezeiten extrem lang, Ferien kommen dazwischen. Verschiedene Fachkräfte an verschiedenen Stellen zoppeln an dem Kind herum, es gibt keinen Austausch zwischen den Stellen. Das kann die Interdisziplinäre Frühförderstelle alles leisten.

Wie kann denn eine Interdisziplinäre Frühförderstelle garantieren, dass es dort nicht auch zu langen Wartezeiten kommt?

Das ist eine gute Frage – wahrscheinlich wird man es nicht garantieren können. Aber ich denke, wenn man eine solche Stelle von Anfang an plant, dann kann man auch die nötigen Personalressourcen mitdenken und die Stelle ordentlich ausstatten. Das muss das Ziel sein.

Was hinderte Heidelberg all die Jahre daran, eine solche Stelle einzurichten?

Es gibt ja die Sozial- und Teilhabeplanung. Die letzte, die gemacht wurde, galt für den Zeitraum 2013 bis 2023. Das ist ein extrem langer Zeitraum. Damals war man der Auffassung, dass es mit dem SPZ, dem Sonderpädagogischen Beratungszentrum in Neckargemünd (SBZ), dem Frühinterventionszentrum in Heidelberg (FRIZ) oder auch den inklusiven Kindergärten – also der Pusteblume, die wir immer weiter ausgebaut haben – ausreichend Angebote gibt.

Diese Ansicht ist mittlerweile überholt?

Ja. Auch Sozialbürgermeisterin Stefanie Jansen hat im Ausschuss für Soziales und Chancengleichheit gesagt, dass das nicht mehr die Ansicht der Verwaltung ist. All die aufgezählten Stellen kümmern sich um spezifische Probleme, es findet keine ganzheitliche Förderung statt.

Und Schulkindergärten gibt es ja nicht ausschließlich zur Frühförderung. Ja, dort findet auch Frühförderung statt, aber es geht auch schlicht um eine Betreuung.

Zuletzt waren außerdem die Wartelisten für die Pusteblume sehr lang.

Das ist nach wie vor so. Im Sommer konnten wir 50 Kinder nicht aufnehmen. Einige davon sind zwischenzeitlich versorgt, die neue Leiterin hat mir aber berichtet, dass die Warteliste schon wieder auf über 50 Kinder angeschwollen ist.

Was treibt Sie denn ganz persönlich an, nun im Ruhestand für eine Interdisziplinäre Frühförderstelle zu kämpfen?

Frühe Hilfen sind gute Hilfen, sie wirken auch präventiv, stärken Familien und verhindern spätere Kosten. Die rechtliche Grundlage für die Einrichtung einer Interdisziplinäre Frühförderstelle gibt es schon seit 2001, die Landesrahmenvereinbarung von 2003 sagt deutlich, dass jede Stadt und jeder Landkreis in Baden-Württemberg eine Interdisziplinäre Frühförderstelle einrichten soll. Das ist auch der Fall.

Nur in Böblingen, Biberach und Heidelberg und dem Rhein-Neckar-Kreis gibt es keine Interdisziplinäre Frühförderstelle. Wir sind das unrühmliche Schlusslicht im Land. Ganz viele Kinder sind im Moment nicht versorgt.

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