Tochter von Heidelberger Paar kam vier Monate zu früh zur Welt
Für Nora Wohlfarth und Nikolaus Rentrop war die zu frühe Geburt ihrer Tochter eine "krasse Grenzerfahrung". Sie setzen sich für eine Interdisziplinäre Frühförderstelle ein.

Von Anica Edinger
Heidelberg. Als die ersten Wehen einsetzen, ist Nora Wohlfarth im fünften Monat schwanger. Es ist der 2. April 2023. Der errechnete Geburtstermin für ihr Baby ist am 23. Juli. Es ist zu früh für die Geburt, viel zu früh, ganze vier Monate. Nora Wohlfarth und ihr Partner Nikolaus Rentrop sind gerade auf dem Weg in den Urlaub. In Bellinzona in der Schweiz fahren sie ins Krankenhaus.
Weil es dort keine Frühchenstation gibt, wird Nora Wohlfarth wenig später mit dem Helikopter nach Zürich geflogen. Ihr Partner fährt mit dem Auto hinterher. Am 6. April um 11.22 Uhr kommt ihre Tochter Luisa (Name von der Redaktion geändert) in Zürich per Kaiserschnitt zur Welt. Sie wiegt 550 Gramm und ist 32 Zentimeter groß. Sie ist ein extremes Frühchen, nur 4151 Kinder wurden 2023 in diesem Stadium in Deutschland lebend geboren.
Hintergrund
> Interdisziplinäre Frühförderstellen (IFF) gibt es in ganz Baden-Württemberg. Die Landesregierung fördert sie. Einzige Ausnahmen sind Biberach, Böblingen – und Heidelberg und der Rhein-Neckar-Kreis. In anerkannten IFFs werden Kinder mit Entwicklungsverzögerungen,
> Interdisziplinäre Frühförderstellen (IFF) gibt es in ganz Baden-Württemberg. Die Landesregierung fördert sie. Einzige Ausnahmen sind Biberach, Böblingen – und Heidelberg und der Rhein-Neckar-Kreis. In anerkannten IFFs werden Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, drohender oder bestehender Behinderung von der Geburt bis zum Schuleintritt ganzheitlich gefördert. In den IFFs arbeiten medizinisch-therapeutische Fachkräfte – etwa Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, oder Logopäden – sowie pädagogisch-psychologische Fachkräfte – etwa Heilpädagogen, Psychologen, Sozialpädagogen – im Team zusammen. Durch diese interdisziplinäre Frühförderung sollen Entwicklungsstörungen sowie drohende oder bestehende Behinderungen verhindert oder gemildert und die betroffenen Kinder mit ihren Familien gestärkt werden. Interdisziplinäre Frühförderung ist für die Familien kostenlos. Die Kosten tragen die Krankenkassen und die örtlichen Eingliederungshilfeträger. ani
Heute sitzt Luisa in ihrem Therapiestuhl am Tisch. Sie lacht und brabbelt. "Sie ist unser Sonnenschein", sagen die Eltern. Welche Einschränkungen Luisa in ihrem künftigen Leben haben wird, das wagen die meisten Ärzte nicht zu prognostizieren. "Ob sie jemals ohne Hilfsmittel laufen kann, wissen wir nicht", sagt Mutter Nora.
Klar aber ist: Luisa ist stark entwicklungsverzögert. Sie wird mit einer Behinderung aufwachsen. Frühförderung ist für die Familie deshalb von Beginn an ein wichtiges Thema. Die Eltern setzen sich für die Einrichtung einer Interdisziplinären Frühförderstelle (IFF) in Heidelberg ein.
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Kürzlich berichteten sie im Ausschuss für Soziales und Chancengleichheit von ihren Erlebnissen. Die RNZ trifft Nora Wohlfarth (39) und Nikolaus Rentrop (36) mit Tochter Luisa einige Tage später.
Der Vater erklärt die Diagnose seiner Tochter: Infantile Zerebralparese. Charakteristisch sind Störungen des Nervensystems und der Muskulatur. Bei Luisa äußert sich das etwa in ihrer rechten Hand, die sie häufig zur Faust ballt. Die Ursache dieser Erkrankung liegt in einer Schädigung des Gehirns.
Als Luisa zwei Tage alt ist, erleidet sie eine schwere Hirnblutung. "Das Risiko für eine Hirnblutung ist bei extremen Frühchen in den ersten 72 Stunden sehr hoch", berichtet Nikolaus Rentrop. Zwei kleinere Eingriffe nehmen die Ärzte in Zürich vor. Doch für Luisas erste richtige Operation muss sie nach Heidelberg verlegt werden.
Weil der Darm des kleinen Mädchens noch nicht so funktioniert, wie er sollte, entzündet sich der Bauchbereich extrem. In Zürich wollen und können die Ärzte das kleine Mädchen nicht operieren. Doch der Chefarzt der Frühchenstation hat Kontakt zu dem in Heidelberg, beide haben einst in der Uniklinik in Tübingen zusammengearbeitet.
Nach 18 Tagen in Zürich wird Luisa mit dem Helikopter nach Heidelberg geflogen. Die Eltern fahren mit dem Auto hinterher. Luisa wird am Darm operiert. Dem Tod ist sie in dieser Zeit womöglich näher als dem Leben. Doch die Operation in Heidelberg glückt. Luisa überlebt. Es sollte nicht die letzte Operation des kleinen Mädchens sein. In den insgesamt sieben Monaten Klinikaufenthalt folgen acht weitere, darunter drei große Darm-Operationen.
Nora Wohlfarth beschreibt diese Anfangsphase als "krasse, krasse Grenzerfahrung". "Wir hatten eine wahnsinnige Angst", sagt Partner Nikolaus Rentrop. Die Mutter darf ihr Baby erst am sechsten Tag nach der Geburt halten. Für gut eine Stunde. "Känguruhen" nennt sich die Methode, wenn das Frühgeborene nur mit einer Windel bekleidet auf die nackte Brust der Mutter gelegt wird.
Dort kann es den Herzschlag der Mutter hören – ein vertrautes Geräusch – und ihre Wärme spüren. In dieser Zeit habe man einfach funktioniert, beschreibt es Wohlfarth. "Wir wussten, unser Kind ist noch nicht bereit für die Welt."
Heute ist Luisa 20 Monate alt. Die Frage nach dem Alter allerdings, findet Nora Wohlfarth, "ist schwierig". Vier Monate werden in der Regel abgezogen, wenn es beispielsweise um den Stand der sensomotorischen Entwicklungen des Mädchens geht. Vier Monate, weil Luisa vier Monate zu früh auf die Welt kam.
Am 2. November 2023 darf die Familie ihr Baby das erste Mal mit nach Hause nehmen. Luisa wiegt knapp über vier Kilogramm. Sie kann selbstständig atmen. Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Nur eine Magensonde trägt sie noch. Glücklicherweise wird die Familie unterstützt von einer Neonatalbegleiterin des "Heidelberger Frühchenvereins" – bis zum heutigen Tag besucht sie Luisa und ihre Eltern regelmäßig, um nach dem Rechten zu sehen.
"Das ist und war Gold wert", sagt Nora Wohlfarth. Auch zu den Ärzten und zum Pflegepersonal der Uni-Kinderklinik pflegt die Familie bis heute Kontakt. Nora Wohlfarth bezeichnet sie als Luisas "zweite Familie". "Sie sind uns alle so ans Herz gewachsen, weil sie in so schweren Zeiten bei uns waren." Wichtig für die Familie war dabei: "Die Nähe zuzulassen, die Beziehungen aufzubauen", beschreibt Mama Nora.
Der Familie ist die Entlassung aus der Kinderklinik deshalb auch nicht nur leicht gefallen: Plötzlich steht man mit vielem alleine da. Mit der Frühförderung etwa. Was ist das Richtige für das Kind? An welche Stellen wende ich mich? Wo fange ich überhaupt an? "Man wird von Pontius zu Pilatus geschickt", sagt Nikolaus Rentrop.
Die Termine, die die Eltern mit Luisa wahrnehmen müssen, wahrnehmen wollen, sind eng getaktet. Dreimal die Woche geht es zur Physiotherapie, einmal zur Logopädie, alle vier Wochen zum Impfen. Andauernd stehen weitere Nachsorge- und Kontrolltermine an. Dazu kommen immer mal wieder ungeplante Klinikaufenthalte.
Denn wenn mit Luisa etwas nicht stimmt, sie viel weint oder sich erbricht, fährt die Familie sofort in die Klinik. "Das ist Teil unseres Alltags", sagt Wohlfarth. Zu groß ist die Gefahr, dass hinter dem Weinen etwas sehr Ernstes stecken könnte. Dazu hat Mutter Nora seit Luisas Geburt enorm viel Energie investiert, damit das Stillen funktioniert – was es letztlich auch tat. Dennoch: Mittlerweile macht sich eine Erschöpfung bemerkbar, die für viele wohl kaum nachzuempfinden ist.
"Es ist logistisch ein extremer Aufwand", berichtet Rentrop. Man müsse sich in Verwaltungsstrukturen und gesetzliche Vorgaben einarbeiten, für jedes neue Rezept müsse man zum Kinderarzt. "Man muss immer am Ball bleiben", sagt Rentrop. Eine Interdisziplinäre Frühförderstelle wäre da eine "riesige Entlastung". "Weil man einfach weiß, in dieser Stelle läuft alles zusammen." Es geht der Familie dabei gar nicht mehr um sie selbst. "Wir sind mittlerweile durch und versorgt", sagt Rentrop.
Es geht dem Paar um die vielen anderen Familien, die die Herausforderungen mit behindertem Kind nicht so stemmen können, wie sie das konnten. "Wir hatten die Möglichkeit, beide gleichzeitig Elternzeit zu nehmen", sagt Rentrop. Außerdem konnten sie es sich finanziell leisten, nicht mehr in Vollzeit zu arbeiten, seit Luisa geboren wurde. Papa Nikolaus ist Politik- und Sozialwissenschaftler, Mama Nora ist Historikerin und Archivarin.
Aufgrund der Schwere ihres Falls habe man letztlich auch "Glück im Unglück" gehabt – und häufig schneller Termine bekommen als andere Familien mit Kind mit Förderbedarf. Ansonsten seien die Wartezeiten in vielen Frühförderstellen "absurd lang", wie Rentrop weiß. Auch hier könnte eine IFF Abhilfe schaffen.
"Unsere Tochter hat eine Behinderung, wir haben das akzeptiert – und sie ist wunderbar, genauso wie sie ist", sagt Mama Nora, während Luisa – zwischenzeitlich vom Stuhl in ein Gitterbettchen umgezogen – sich hin und her wälzt. Vielleicht gibt es zum Mittagessen indisch – püriert. Es ist das Lieblingsessen des Mädchens.