Mit neuem Elan und alten Tugenden meldet sich 1899 Hoffenheim zurück
Die pure Lust am Spielen beim aufregenden 3:2 über Mainz 05 im Klassenkampf

Einer für alle - alle für einen (v.l.): Hoffenheims Polanski, Volland, Hamad, Kaderabek und Rudy bejubeln das zwischenzeitliche 3:1 des Teamkollegen Uth frenetisch. Foto: APF
Von Joachim Klaehn
Sinsheim. In der Nachspielzeit hätte der Adrenalinspiegel des mit Abstand jüngsten Bundesliga-Trainers nicht höher sein können. Julian Nagelsmann fuchtelte wild mit den Armen, brüllte lautstark in Richtung Schiedsrichter Günter Perl, deutete ihm unmissverständlich an, bat ihn geradezu flehentlich, er solle diesen rasanten, offenen Schlagabtausch doch beenden. Am allerliebsten wäre Nagelsmann selbst aufs Spielfeld gerannt. "Ich habe 7 000 Mal auf meine Armbanduhr geschaut", räumte er hinterher im prall gefüllten Medienraum ein.
Die riesengroße Erleichterung nach dem aufregenden 3:2 (1:1) über den FSV Mainz 05 stand allen Hoffenheimern ins Gesicht geschrieben. Verständlicherweise, denn das letzte Erfolgserlebnis vom 12. Dezember gegen Hannover 96 (1:0) lag schließlich eine gefühlte Ewigkeit zurück. Doch dieser erst dritte Dreier (Augsburg, Hannover und Mainz) in einer bisher turbulenten und überwiegend enttäuschend verlaufenden Saison könnte die Lebensgeister neu geweckt haben. "Hoffe" glaubt wieder an sich und seine Stärken - ein Nagelsmann-Effekt nach zehn Tagen ist unübersehbar. Der Stevens-Nachfolger, der wesentlich reifer wirkt als es seine "zarten" 28 Jahre vermuten lassen, hat offenbar gemeinsam mit seinem Funktionsteam an den richtigen Stellschrauben gedreht: spielerisch, taktisch, personell und vor allem mental.
In diesem enorm wichtigen Sieg stecke "sehr viel Nagelsmann" drin, sprudelte es aus Stürmer Kevin Volland nur so heraus, "die TSG steht und stand in der Vergangenheit für Offensivfußball und tut das jetzt endlich wieder." Auch wenn keiner der Profis den konsequenten Defensiv-Verfechter Huub Stevens öffentlich verdammen wollte, es war eben doch eine - indirekte - Kritik am gewählten Ansatz des niederländischen Zuchtmeisters. "Jeder von uns kann sich zu 100 Prozent mit der Spielweise von Nagelsmann identifizieren", konstatierte Vollgas-Kicker Volland, der gemeinsam mit Abwehr-Hüne Niklas Süle gegen die flinken "Mainzelmännchen" überragte.
Stevens hatte einen absoluten Leistungsträger wie Volland demontiert - klar, dass der Allgäuer auftrat, als würde er Ketten sprengen wollen. Ein symbolischer Akt der Befreiung. Eine talentierte, aber glücklose Mannschaft schien seit Ende Oktober am eng angelegten taktischen Korsett und an der eigenen Verunsicherung buchstäblich zu ersticken.
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Nach den wesentlichen Eckdaten und Toren von Cordoba (11.), Amiri (13.), Uth (68. und 76.) sowie Samperio (78.) ist im Kraichgau die Hoffnung auf das Erreichen des Klassenziels zurückgekehrt. "Wir sind wieder da!", sagte Nadiem Amiri mit emotionalem Unterton, "Julian strahlt Vertrauen und Selbstvertrauen aus. Das kommt bei der Mannschaft an."
Dass es vor offiziell 24 109 Zuschauern eine gelungene Heimpremiere für Nagelsmann wurde, lag an mehreren Aspekten. Insbesondere an Ideen, Lösungsansätzen und klaren Aufgabenstellungen, die der Jungtrainer seinen Schützlingen mitgegeben hatte. Das Paket beinhaltete Lust am Spielen, viel Leidenschaft, frühes Pressing, Balleroberungen, kompromissloses Umschaltspiel sowie die Rückkehr zur Viererkette. Überraschend, dass mit Philipp Ochs ein gelernter Stürmer in die Abwehrformation beordert wurde. Mutig, elanvoll, aggressiv und offensiv marschiert "Hoffe" unter Nagelsmann in den Klassenkampf - Risiken inklusive. Hätte der bärenstarke Süle den Kopfball von Fabian Frei (72.) nicht von der Linie gekratzt, die Dramaturgie wäre wohl anders verlaufen. So aber blieb es beim verdienten zweiten Heimsieg - sowie der Verringerung des Abstandes auf Werder Bremen und den Relegationsplatz. "Die Tabelle sieht jetzt etwas schöner aus", sagte Nagelsmann in einem Mix aus Optimismus und Realismus auf RNZ-Nachfrage, "es war ein Anfang, der uns nur etwas bringt, wenn wir da weiterarbeiten."
Schon die bevorstehende "Englische Woche" in Dortmund, zu Hause gegen Augsburg und in Stuttgart wird weitere Aufschlüsse darüber geben, ob eine verkorkste Spielzeit mit zwei Trainerwechseln ein versöhnliches Ende finden kann. Tatsache ist: Mit Nagelsmann, dem neuen, alten Hoffenheimer Spielstil und mehr Spielglück ist nach dem Missverständnis Stevens der Ligaverbleib wieder drin. Es könnte freilich passieren, dass Nagelsmann noch häufiger gefühlt 7 000 Mal auf seine Uhr schauen wird.