Zwischen Therapie und Guerilla

Das Sozialistische Patientenkollektiv bekämpfte das "kranke System"

Vor 50 Jahren zerfiel das Sozialistische Patientenkollektiv Heidelberg. Die RNZ sprach mit zwei Beteiligten über Psychiatrie und Terrorismus.

14.12.2021 UPDATE: 15.12.2021 06:00 Uhr 4 Minuten, 55 Sekunden
Wiesenbach im Juni 1971: Nachdem ein Unbekannter einen Polizisten angeschossen hat, wird SPK-Gründer Wolfgang Huber an seiner Wohnadresse festgenommen. Archivfoto: Ballarin

Von Lukas Werthenbach

Heidelberg. Eigentlich gerät der damals 26-jährige Lutz Taufer im Jahr 1970 nur an das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) in Heidelberg, weil er nach einem "schief gegangenen" Rausch mit der Droge LSD psychologische Hilfe sucht. Fünf Jahre später ist er als Terrorist der Roten Armee Fraktion (RAF) an der blutigen Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm beteiligt, insgesamt vier Menschen sterben. Taufer wird hinterher zu zweimal lebenslanger Haft verurteilt. Mit ihm und einem weiteren Zeitzeugen sprach die RNZ 50 Jahre nach der Auflösung des SPK darüber, wie der Versuch einer Reform der Psychiatrie in einer kriminellen Vereinigung endete, die den bewaffneten Kampf gegen den Kapitalismus anstrebte.

Die 68er-Bewegung ist bundesweit in vollem Gange: Wasserwerfer und Schlagstöcke auf der einen, hitzige Demonstranten mit anti-autoritären Parolen auf der anderen Seite. Der Protest gilt dem Schweigen über den Nationalsozialismus, dem Vietnamkrieg und überhaupt dem bestehenden System. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) steht wenige Wochen vor seiner Selbstauflösung – seine besonders hartnäckige Heidelberger Gruppe wird aber noch einige Monate weiter protestieren, bis sie schließlich verboten wird.

Hintergrund

Ein höchst umstrittener Arzt

Als "eine Art Guru", "narzisstisch" und "größenwahnsinnig" beschreibt der heutige Medizinhistoriker Prof. Dr. Christian Pross den Kopf des Sozialistischen Patientenkollektivs (SPK): Wolfgang Huber. Er hielt seine

[+] Lesen Sie mehr

Ein höchst umstrittener Arzt

Als "eine Art Guru", "narzisstisch" und "größenwahnsinnig" beschreibt der heutige Medizinhistoriker Prof. Dr. Christian Pross den Kopf des Sozialistischen Patientenkollektivs (SPK): Wolfgang Huber. Er hielt seine Vorstellung von einer Revolutionierung der Psychiatrie für einzigartig und verwarf alle damaligen Reformansätze. Pross, damals selbst Student, lernte Huber kennen und war auch bei der Besetzung der Klinikverwaltung im Februar 1970 mit dabei.

1962 im Alter von 27 Jahren in Heidelberg promoviert, wurde Huber 1966 Arzt an der Psychiatrischen Poliklinik der Universität. "Huber hatte viel Einfühlungsvermögen und Charisma und damit die Fähigkeit, an den Kern der Probleme seiner Patienten vorzudringen", so Pross. Doch zugleich sei er eine "instabile Persönlichkeit" gewesen. "Er verweigerte sich den für damalige Verhältnisse ausgesprochen großzügigen und fortschrittlichen Angeboten der Klinik zur psychotherapeutischen Weiterbildung und nahm nicht mehr an Fall- und Teambesprechungen teil."

Unter Verletzung des Abstinenzgebots lud er ausgewählte Patienten zu philosophischen Gesprächskreisen in sein Privathaus ein und "beutete" laut Pross einige Patientinnen "sexuell aus". "Er zog die Patienten in seinen Arbeitskonflikt mit Prof. von Baeyer hinein und missbrauchte sie als Kampftruppe für seine absurden Vorstellungen von den psychisch Kranken als revolutionäres Subjekt." Huber und seine engsten Anhänger radikalisierten sich immer weiter, Kontakte zur RAF wurden geknüpft, ein gewaltsamer Umsturz geplant.

Wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Sprengstoffherstellung und Urkundenfälschung wurden er und seine Frau Ursula im Dezember 1971 zu viereinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. 1976 wurden sie aus der Haft entlassen, heute gilt er als "verschollen". rnz

[-] Weniger anzeigen

In diesem atmosphärischen Rahmen kommt es im Februar 1970 an der Psychiatrischen Poliklinik in Heidelberg zu einer "Vollversammlung" von etwa 50 Patienten. Der Grund: Sie protestieren gegen die Entlassung des Arztes Dr. Wolfgang Huber, der seine Patienten vor den menschenunwürdigen Zuständen in der damaligen Anstaltspsychiatrie bewahren will.

"Aber wir hatten dabei einen gewissen Tunnelblick", sagt heute jemand, der damals dabei war: Prof. Dr. Christian Pross studiert zu dieser Zeit Medizin an der Heidelberger Universität und engagiert sich in der Studentenbewegung gegen die "Übermacht der Ordinarien und martialische Prüfungsrituale". Der heutige Psychotherapeut und Medizinhistoriker hat nach vierjähriger Forschungsarbeit im 2016 erschienenen Buch "Wir wollten ins Verderben rennen" die Geschichte des SPK minutiös aufgearbeitet. Mit "Tunnelblick" meint er die rückblickend paradoxe Situation, dass ausgerechnet die Heidelberger Klinik, wo der Protest entsteht, damals unter ihrem als innovativ geltenden Chef Prof. Walter von Baeyer sozusagen eine "Werkstatt der Psychiatriereform" ist. Hier wird bereits die Anstaltspsychiatrie nach angelsächsischem Vorbild umgestaltet: mit der Öffnung geschlossener Stationen, Einführung therapeutischer Gemeinschaften auf den Stationen, schrittweiser Abkehr von der Elektroschock-Therapie und dem Aufbau eines sozialpsychiatrischen Versorgungsnetzes.

Auch interessant
50 Jahre SPK: "Revolutionärer Umsturz wurde vorbereitet"
: Von revolutionären Heilsversprechen des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg (plus Video)
Premiere von "SPK Komplex" im Karlstorkino: "Baader und Ensslin hatten mit dem SPK nichts am Hut"
Für geplantes Theaterstück: Wer erinnert sich an das RAF-Attentat 1972 in Heidelberg?
: Was bleibt vom Sozialistischen Patientenkollektiv? (plus Video)

"Aber wir ließen uns mitreißen von der Welle des Protests, die von Huber und seinen Patienten ausging", sagt Pross. So habe man jene "Patientenvollversammlung" im Februar 1970 als "politisch motivierte Gruppentherapie" verstanden: "Wir dachten, das wäre eine gute Sache."

Nur wenige Wochen später wehen rote Fahnen aus den Fenstern der Klinikverwaltung, dazu ein Spruchband: "Patienten und Projektgruppe Medizin protestieren mit einem Hungerstreik gegen die Entlassung des politisch unbequemen Arztes Dr. Huber". Das SPK und Studenten der "Basisgruppe Medizin", darunter auch Pross, haben das Dienstzimmer des Verwaltungsdirektors besetzt. Die Besetzer fordern, dass Huber die Gruppentherapie mit seinen Patienten weiterführen kann. Auf Vorschlag des liberalen Rektors der Universität, Rolf Rendtorff, kommt es zum Kompromiss: Huber darf nicht mehr an der Klinik arbeiten, erhält aber weiter Gehaltszahlungen und bekommt für sich und seine Patienten Räume in der Rohrbacher Straße 12 zur Verfügung gestellt.

Ebendort, in der kleinen Wohnung – direkt gegenüber der Heidelberger Polizeidirektion – trifft der eingangs erwähnte Lutz Taufer erstmals auf das SPK. Er studiert damals Psychologie in Mannheim, wo er Tage nach einem LSD-Trip und andauernden Halluzinationen jedoch keine professionelle Hilfe findet. "Viele Ärzte wollten damals nichts mit Langhaarigen wie mir zu tun haben", erzählt er. "Ich hatte aber von einer Gruppe in Heidelberg gehört, die eine kostenlose Behandlung anbot." In der Rohrbacher Straße treffen er und zwei Mitbewohnerinnen "plötzlich auf unser eins", wie er sagt. "Das waren Studenten, die den ganzen Laden schmissen." Hier gibt es keine Trennung zwischen Arzt und Patient, psychisch Kranke organisieren ihre eigene Therapie innerhalb einer Gemeinschaft. "Aber sich selbst überlassen ohne professionelle Hilfe, waren sie völlig damit überfordert, beispielsweise psychotische oder suchtkranke Mitpatienten zu behandeln", erinnert sich Pross. Schon bald heißt die Behandlung nicht mehr "Therapie", sondern "Agitation". "Einzel- und Gruppenagitationen" gibt es, eine kleine Bibliothek mit Werken von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx und Mao Tse Tung entsteht. Huber hält sich meist in einem separaten Raum auf und führt eigene Sprechstunden, so Taufer. "Mit den anderen saßen wir zusammen und haben über Dinge geredet, die man im Alltag nie besprochen hat – etwa über das eigene Verhalten und Auftreten."

Für ihn spielt die Auseinandersetzung mit der eigenen Psyche aber mit der Zeit nur noch eine kleinere Rolle. Politisiert wurde er bereits wenige Jahre zuvor. Benno Ohnesorgs Ermordung durch einen Polizisten 1967 bei einer Demonstration in Berlin sei sein "Schlüsselerlebnis", so Taufer. 1968 in Bonn folgt seine "erste große Demo", gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze. Auch er fürchtet damals eine "Rückkehr des Faschismus", sagt der heute in Berlin lebende Rentner, der nach seiner Haftentlassung 1995 lange in brasilianischen Favelas arbeitete.

Nicht der Patient sei krank, sondern die vom Kapitalismus getriebene Gesellschaft, lautet damals eine grundlegende Überzeugung des SPK. "Eine wichtige Inspiration für uns war das Bild von David gegen Goliath", erinnert sich Taufer. Man solidarisiert sich etwa mit den "armen Bauern in Vietnam", die im Krieg gegen die USA gerade "die mächtigste Armee der Welt in die Knie zwingen". Das SPK wächst derweil nicht nur rasch – im Sommer 1970 zählt es bereits 150 Mitglieder, später ist gar von an die 500 die Rede. Sondern es radikalisiert sich auch weiter. Regelmäßig in den SPK-Räumen verfasste "Patienten-Infos" geben Einblick in das Denken und die Ziele der Gruppe. "Das System hat uns krank gemacht, geben wir dem kranken System den Todesstoß", heißt es darin etwa.

Um Huber bildet sich ein "Innerer Kreis", der sich wöchentlich bei ihm in Wiesenbach trifft. Es geht um Waffen und Spionagetechniken, Verbindungen in den Untergrund werden geknüpft. Unter anderem Hubers Frau Ursula sowie die späteren RAF-Mitglieder Axel Achterrath, Siegfried Hausner, Carmen Roll und Sieglinde Hofmann gehören ihm an. Letztere ist 1977 an der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer beteiligt.

Wiesenbach gerät eher zufällig in den Fokus der Ermittler, die so das Ende des SPK einleiten. Bei einer nächtlichen Verkehrskontrolle im Juni 1971 fallen Schüsse auf zwei Beamte, einer wird verletzt. Bis heute ist die Tat nicht vollständig aufgeklärt. Doch schnell lassen sich Verbindungen zu Hubers SPK feststellen. Schon zwei Tage nach den Schüssen von Wiesenbach berichtet die RNZ über mögliche Kontakte zur "Baader-Meinhof-Gruppe". Es folgen zahlreiche Hausdurchsuchungen in Heidelberg. Dabei werden unter anderem Waffen und Munition gefunden, neben dem Ehepaar Huber werden weitere SPK-Mitglieder festgenommen. Huber kommt zunächst im Heidelberger Gefängnis "Fauler Pelz" unter, wo SPK-Anhänger an den Folgetagen für seine Freilassung protestieren.

Christian Pross bemerkt die zunehmende Radikalisierung des Kollektivs Monate vorher. "Als plötzlich von Guerilla-Strategien die Rede war, habe ich mich davon entfernt", sagt er. Zusammen mit einem Kommilitonen der "Basisgruppe Medizin" versucht er im Sommer 1971 noch die Gruppe zu einer Umkehr zu bewegen: "Ihr rennt ins offene Messer", sagt er den verängstigt wirkenden Patienten in der Rohrbacher Straße, "das hat nichts mehr mit Therapie zu tun". Doch er wird von den Wortführern des "Inneren Kreises" als "Polizeispitzel" beschimpft und vertrieben. Heute betont er: "Das Gros der Patienten hatte mit dem bewaffneten Kampf nichts zu tun, nur ein kleiner Teil aus dem Inneren Kreis tauchte in den Untergrund ab." Dass es sich beim SPK um eine "Kaderschmiede" der RAF handele, sei ein "Irrglaube", so Pross.

Lutz Taufer hat nach eigener Aussage nichts mit dem "Inneren Kreis" zu tun. Er solidarisiert sich damals zunehmend mit "politisch Gefangenen", kritisiert die Isolationshaft. So gerät er an die sich gerade bildende RAF. Auch die Geiselnahme von Stockholm 1975 verfolgt schließlich das Ziel, die Freilassung inhaftierter RAF-Angehöriger zu erzwingen. Heute sagt Taufer dazu: "Es sind viele Fehler passiert, zum Beispiel hätten die Geiselerschießungen niemals stattfinden dürfen." Doch der auch von SPK und RAF ausgehende "Aufbruch" sei "grundsätzlich richtig" gewesen: "Wir haben den Faschismus auf die Tagesordnung der Bundesrepublik gesetzt." Dies sei bis heute wichtig, sagt er.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.