Von revolutionären Heilsversprechen des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg (plus Video)
45 Jahre später widmet sich Christian Pross in seinen Untersuchungen dem Sozialistischen Patientenkollektiv in Heidelberg - Eine Rezension

Im ehemaligen Standort der Poliklinik in der Weststadt fanden die Gruppentherapien von Huber statt. Heute ist hier die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik angesiedelt. Fotos (3): Verlag
Von Norbert Giovannini
Heidelberg. Fast ein halbes Jahrhundert nach der Episode um das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) in Heidelberg füllte sich Anfang November 2016 der legendäre Hörsaal 13 der Neuen Universität bis auf den letzten Platz. Eingeladen hatte der renommierte Psychiatrie-Verlag zur Vorstellung einer umfassenden Untersuchung des Medizinhistorikers Christian Pross über das SPK 1970/71.
Hier das RNZ-Interview mit Christian Pross:
Schon der Titel von Pross' Buch ist irritierend: "Wir wollten ins Verderben rennen". Die eher beiläufige Aussage eines der 63 Zeitzeugen, die Pross interviewte, weist auf das Verstörende hin, das Anfang der siebziger Jahre von diesem Projekt ausging. Seine Akteure traten provozierend, aggressiv und kompromisslos auf. Sie bedienten alle öffentlichen Stereotypen von Linken und linken Radikalen. Ein zweifelhafter Guru (Dr. Wolfgang Huber), die starke Sogwirkung nach außen (angeblich 500 Patienten), abstrus-spekulatives Denken, aber auch respektlos-fäkalisierte Sprache. Und schließlich das tragisch-makabre Abdriften ins Kriminelle.
Das SPK war auch eine Zumutung für das damalige linke Studentenmilieu, wo ihm gegenüber eine ziemliche Ambivalenz herrschte. Aber es waren doch auch neue Wege der Therapie, Selbstorganisation der Patienten, Ideen der zeitgenössischen Antipsychiatrie. Und nicht zuletzt das Leiden an menschenunwürdigen Praktiken der psychiatrischen Behandlung in den gefürchteten Irrenanstalten. Ein Horrorsystem, für das die Halbgötter in Weiß, das medizinische Establishment in schlimmster Tradition, verantwortlich waren. Die Entlassung Dr. Hubers aus der Poliklinik Anfang 1970 war für viele ein Beweis dafür, wie richtig diese Kritik war.
Verwirrt, aggressiv und dogmatisch ...
Der Autor Pross ist Zeitzeuge und war als Heidelberger Medizinstudent - entsetzt von Erfahrungen in Psychiatrischen Krankenhäusern - anfangs Unterstützer Hubers, dem Rektor Rendtorff nach Besetzung der Klinikverwaltung und des Rektorats Räume in der Rohrbacher Straße 12 zur Fortsetzung der Arbeit überließ. Pross reflektiert autobiografisch dieses naive Solidaritätsintermezzo, dessen Ende von den radikalisierten SPK-Wortführern selbst mit "Schimpf und Schande" beschleunigt wurde.
Seine Untersuchung legt nahe, dass paradoxerweise die Heidelberger Universitätspsychiatrie unter Walter Ritter von Baeyer eher ein reformerischer Leuchtturm war, auch wenn Reaktionäre sich in seiner Klinik weiter tummelten. Aber für letztere und das Gros der Klinikdirektoren stand alsbald fest, dass sich um Huber und sein Team herum Scharlatane, Hassprediger und sonstige Irre sammelten. Im Ergebnis sind es verschiedene Geschichten, die Pross rekonstruieren und erzählen kann - die auch noch zusätzlich gebrochen sind in der Wahrnehmung und Erinnerung der Zeitzeugen.
Es ist die Geschichte eines zunächst hoch engagierten, einfühlsamen und etwas einzelgängerischen Dr. Huber, der seit 1961 an der Psychiatrischen Klinik arbeitete. Er reagiert außergewöhnlich sensibel und empathisch, gegen das traditionelle Arzt-Patient-Verhältnis, die skandalösen Behandlungspraktiken und die komplette Unterversorgung psychisch angeschlagener Studenten. Mit dem Ansinnen, eine Beratungsstelle für Studenten zu schaffen, war schon Klinikleiter von Baeyer mehrfach auf taube Ohren gestoßen. Huber ist ein Selfmade-Linker, der sich schon vor der Entlassung im Wochentakt radikalisiert. Der sich ab- und ausgrenzt, bedenkenlos therapiert jenseits aller Standards, wie fragwürdig sie auch sind. Einer, der in sich eine Retter-Mission findet und sie aggressiv formuliert. Auf manche wirkt er damals wie eine Karikatur des linksradikalen Intellektuellen schlechthin. Einer, der Hegel, Marx und Lenin braucht, um seine Sicht aufs System zum Wahrheitsdogma aufzurüsten: Krankheit ist Gesundheit in einer kranken Gesellschaft. Wird das in Krankheit verkapselte Potenzial entfesselt, entsteht revolutionäres Handeln. Denken kann man das. Vielleicht hilft es sogar kurzzeitig, schafft Solidarität, Heimat, Geborgenheit.
Eine zweite Geschichte, die Pross rekonstruiert, ist die schier unfassliche Bereitschaft, dem SPK Arbeits- und Wirkungsbedingungen zu schaffen. Vom Verwaltungsrat der Universität bis zu einzelnen Hochschullehrern, von Prominenten wie Prof. Horst Eberhard Richter, Prof. Peter Brückner bis zu Unterstützern vor Ort wie Dr. Dieter Spazier und Jörg Bopp (Initiatoren und Leiter der psychotherapeutischen Studienberatung) reichten die Initiativen, die das SPK in der Regel mit Häme, Spott und triefendem Hass abfertigte. Liberale Studenten und das Rektorat Rendtorff verhandelten, taktierten, arrangierten und versuchten zu schützen und zu erhalten, was im Interesse von Patienten erforderlich war. Denn auch Hunderte von diesen sind Teil dieser zweiten Geschichte: verloren und verwirrt, hilfsbedürftig, von den Begriffsexegesen in Therapiesitzungen restlos überfordert, nicht fähig zur Therapeutenrolle, aber elementar froh, dass ihnen jemand zuhört und sie aufnimmt. Sie waren in Gefahr, doppelte Opfer zu werden. Opfer des SPK-Revolutionismus. Opfer aber auch der bedenkenlosen öffentlichen Kampagnen gegen das SPK, in denen sich die Lokalpresse, das Kultusministerium, die Ordinarien der medizinischen Fakultät und hysterisch-schrill die Boulevardpresse wechselseitig hineinsteigerten.
... aber keine Kaderschmiede der Roten Armee Fraktion
Die dritte Geschichte, die Pross erzählt, ist die von Gewaltfantasien und scheinbar unvermeidlicher Feindschaft. Aus einer historisch produktiven und kreativen Studentenbewegung waren Kadergruppen entstanden, die - nach Marx - die Tragödien der Geschichte nochmals als Komödien nachspielen. Das akademische Heidelberg damals war ein Tummelfeld davon, aber auch ein Feld unkonventioneller Bewegungen, kritischer Geister und bündnisfähiger, linker Realisten. Heidelberg hätte ein Ort sein können, in dem Hochschule und Gesellschaft Fortschritte gemacht hätten. So wie es später Bürgerbewegungen, kulturelle Initiativen und engagierte Einzelne in dieser Stadt praktiziert haben. Wer die 460 Seiten von Christian Pross’ Untersuchung bewältigt hat, mag Trauer und Bedauern spüren über die damals vertanen Chancen. Oder froh sein, dass die Geschichte nicht 1971 endete.
Dr. Huber wurde am 25. Juni 1971 nach einer spektakulären Polizeiaktion in Wiesenbach, bei der ein Polizist angeschossen wurde, verhaftet und mit anderen SPK-Aktiven zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Pross kann nachweisen, dass entgegen gängiger Darstellungen das SPK nicht die "Kaderschmiede" der Roten Armee Fraktion war. Er meint, dass eher das dem SPK nachfolgende "Heidelberger Komitee gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD" als Transmissionsmilieu in die RAF gelten kann. Der kritische Diskurs um die Psychiatrie, die Patient-Therapeut-Beziehungen und menschenwürdige Behandlungsoptionen sind nach wie vor aktuell.
Info: Christian Pross (mit Sonja Schweizer und Julia Wagner): "Wir wollten ins Verderben rennen". Die Geschichte des Sozialistischen Patientenkollektiv Heidelberg 1970-1971. Psychiatrie Verlag, Köln, 39,95 Euro, ISBN: 978-3-88414-672-9.