"Zum Schwanen" Ladenburg

Artur Riedel schrieb Gastronomiegeschichte

Als Quereinsteiger hatte er im Gasthaus "Zum Schwan" viel Erfolg. Seine halben Hähnchen sind heute noch legendär.

03.09.2023 UPDATE: 03.09.2023 06:00 Uhr 4 Minuten, 57 Sekunden
Seit 1956 lebt Artur Riedel nach seiner Flucht aus der DDR in der Römerstadt. Mittlerweile ist er zum Ladenburger Original geworden. Foto: Sturm

Von Axel Sturm

Ladenburg. Gastwirte, die eine bodenständige und ehrliche Küche anbieten, haben in einer Kleinstadt meist einen hohen Bekanntheitsgrad. So ist es auch in Ladenburg, wo der ehemalige Wirt des Gasthauses "Zum Schwan", Artur Riedel, vielen noch ein Begriff ist. Er ist ein Beispiel dafür, dass man durch Einsatz, Gastfreundlichkeit, Leidenschaft – und nicht zuletzt durch Fachwissen – ein guter Wirt werden kann. Der Spruch: "Wer nichts wird, wird Wirt" trifft auf Riedel sicher nicht zu.

Der Mann aus Königsberg, der in der ehemaligen DDR aufwuchs, erlernte dort den Beruf des "Grauguss-Formers", also des Metallgießers. Er wuchs in einem strengen Elternhaus auf, sagt Riedel. Sein Vater sei überzeugter Kommunist gewesen, und der heute 88-jährige Riedel musste in seiner Kindheit "spuren", wie er sich erinnert.

Flucht aus der DDR

Riedel hatte einen starken Gerechtigkeits- und Freiheitssinn, und daher eckte er im Realsozialismus immer wieder an. Er schaute regelmäßig Nachrichten im West-Fernsehen: SPD-Politiker wie Herbert Wehner und Kurt Schumacher sind ihm heute noch wegen ihrer kämpferischen Debatten und ihrer Überzeugungskraft in guter Erinnerung. Auch er wollte im Westen die Freiheit genießen, und daher entschloss er sich im Jahre 1956 zur Republik-Flucht. Er erinnert sich noch gut an den regnerischen Tag im Herbst, als er mit seinem jüngeren, damals noch minderjährigen Bruder in die U-Bahn stieg, um über die damals noch durchlässige Grenze – die Mauer gab es noch nicht – in den Westen zu fahren.

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Hinter dem Brandenburger Tor stiegen die beiden am ersten West-Bahnhof aus. Ihr Weg führte sie dann zum "Notaufnahmelager" Marienfelde, wo alle Flüchtlinge registriert wurden. Menschen aus der DDR, die eine gute Berufsausbildung hatten, waren in der Bundesrepublik höchst willkommen. Bis sein Bruder die Aufenthaltspapiere bekam, dauerte es allerdings, denn es musste erst überprüft werden, ob der Minderjährige nicht in den Osten zurückgeschickt werden musste. Die Eltern legten aber kein Veto ein.

Ende 1956 trafen die beiden Brüder nach einer vierwöchigen Odyssee durch Westdeutschland in Ladenburg ein. Sie wurden in zwei kleinen Zimmern in der damaligen Gaststätte "Zur Krone" in der Hauptstraße untergebracht. Hier richtete das Jugend-Sozialwerk Unterkunftsmöglichkeiten ein. Der Gastwirt der Krone mit den riesigen Eis-Kellern hatte kurz zuvor den Gastronomie- und Bierbrauerbetrieb aufgegeben.

Riedel suchte Arbeit und wurde als Grauguss-Former im Rheinauer Stahlwerk eingestellt. Als in Ladenburg die Gießerei Weckert neben dem BBC-Gelände in der Wallstadter Straße Fachkräfte suchte, wechselte er nach knapp einem Jahr seine Arbeitsstelle. Metallformer wurden damals sehr gut bezahlt. "Ich erhielt einen Stundenlohn von 3,70 Mark. Ein Schreiner oder Maurer verdiente damals gerade mal die Hälfte", erzählte Riedel, dass er sich schnell ein gutes Leben aufbauen konnte. Der ledige junge Mann konnte sich Gaststättenbesuche, Kinobesuche und nun auch eine eigene Wohnung leisten. Er war Stammgast in den Arbeiterkneipen "Falken" und "Schwanen".

Durch seinen „Schwanen“-Stammtisch bleibt Artur Riedel (3.v.l.) dem Lokal auch in der Rente noch treu. Foto: Sturm

In der Marktplatz-Kneipe hörte er von der "Schwanen-Wirtin" Elisabeth Remelius, der Mutter seiner späteren Frau, die "Lissl" genannt wurde, dass ein Zimmer oberhalb der Gaststätte frei wird. Er mietete sich ein und lernte in der Gastwirtschaft auch die junge Wirtstochter besser kennen und später lieben. 1965 heiratete Artur die "Schwane-Lissl", die in der Gaststätte bediente. Als der Schwiegervater überraschend starb, wurde ein Nachfolger für den Betrieb gebraucht. Seine Frau und seine Schwiegermutter überredeten Riedel dazu, in den Betrieb einzusteigen, der sich eigentlich in seinem Beruf als Formgießer sehr wohl fühlte.

Er kündige trotzdem am 1. April 1969, um im "Schwanen" seine Schwiegermutter und seine Frau zu unterstützen. Er wurde an der Theke gebraucht, musste Bierfässer aus dem Keller hieven, einkaufen und die Gäste bewirten. "Da werde ich nicht alt", war sein erstes Resümee nach vier Wochen. Er sei anfangs gar nicht glücklich gewesen. Als er jedoch sah, was im "Schwanen" verdient werden konnte, änderte sich seine Meinung. "Ich habe abends die Mäuse gezählt und staunte Bauklötze", erinnert er sich. Er blieb und wurde nach und nach ein überzeugter Wirt mit Leidenschaft. Seine Söhne Peter und Thomas wuchsen mit der Familie im "Schwanen" auf. Peter lernte später Metzger in der benachbarten Metzgerei Prior, und Thomas war gleich in zwei Berufen Lehrling: Koch und Konditor.

Die Marktplatzgastronomie brummte. In der Küche gab es jedoch ein Problem, denn die Schwiegermutter musste aus Altersgründen kürzer treten. Außerdem war der Schwanen renovierungsbedürftig, sodass sich das Ehepaar Remelius-Riedel zu einer umfangreichen Renovierung und einer neuen Aufgabenverteilung entschloss. Artur wurde nun Küchenchef. Er richtete sich die Küche nach seinen Bedürfnissen ein und bestand auf uneingeschränkter Sauberkeit, wodurch es nie eine Reklamation durch Lebensmittelkontrollen gab.

Am gastronomischen Konzept hielt er fest. Es gab deftige Hausmannskost: Rindfleisch mit Meerrettich, Schweinebraten mit Knödeln, Rippchen mit Sauerkraut oder Königsberger Klopse. Bekannt war der "Schwanen" aber für seine Rumpsteaks, und einen geradezu legendären Ruf hatten Riedels halbe Hähnchen. 600 bis 800 davon seien teilweise wöchentlich über die Ladentheke gegangen. Auch Hochzeitsgesellschaft und Firmen bestellten das knusprige Geflügel, das auf Silberplatten angerichtet wurde. Noch heute ist Riedel stolz auf seine Salatauswahl. "Alles wurde frisch zubereitet", sagt er und bekommt glänzende Augen, als er von der "alten Zeit" erzählt.

Ein Jahr arbeitete sein Sohn Thomas in der "Schwanen"-Küche mit. "Von ihm habe ich viel gelernt – zum Beispiel, wie man Soßen abschmeckt", erzählt der Vater, der bedauerte, dass es Thomas danach in die gastronomische Welt hinauszog. Heute hat der Sohn im Berliner Hotel Kempinski als Chef-Patissier eine Führungsposition, und auch die Entwicklung von Sohn Peter macht dem Vater Freude. Der Metzger leitet einen Catering-Betrieb in Wallstadt in eigener Verantwortung. Der Wunsch von Riedel, dass einer der Söhne den "Schwanen" übernehmen wird, erfüllte sich nicht.

Als Riedel am 20. November 1998 das Restaurant aufgab, um den Betrieb an den italienischen Gastwirt Hugo Balloni zu verpachten, ging ein Stück Ladenburger Gastronomie-Geschichte zu Ende. Vorbei war die Zeit, als man im "Schwanen" halbe Hähnchen kaufen konnte. Die großen Fastnachtsbälle gehörten der Vergangenheit an, und auch die Heilig-Abend-Essenseinladungen der Schwiegermutter an alleinstehende heimatlose Mitbürger, waren vorbei.

"Ich habe zwar viel geschafft und bin in der Woche oft mehr als 80 Stunden in der Küche gestanden, aber ich habe immer darauf hingearbeitet, dass ich mit 63 Jahren in Rente gehen kann", sagt Riedel. Während seiner Berufszeit hat er außerdem eine dreiwöchige Urlaubsschließung im Sommer eingeführt. "Ich war der erste Gastwirt in Ladenburg, der Urlaub machte, mit der Familie einige Wochen in die Berge oder ans Meer fuhr oder meine alte Heimat besuchte", so Riedel, dem seine Schwiegermutter prophezeit habe, dass er die Gäste dadurch verärgern würde. Die hielten ihm jedoch bis zum Schluss die Treue, und er konnte mit einem guten Gewissen seinen dritten Lebensabschnitt genießen.

Bis zu 800 Hähnchen pro Woche

Die Pachteinnahmen des "Schwanen" waren ein wichtiger Teil seiner Altersversorgung. "Mal hatte ich Glück, und die Miete wurde pünktlich bezahlt – mal blieben die Einnahmen monatelang aus", erzählt Riedel, der das Lokal seit seinem Rentenantritt an vier Gastronomen verpachtet hat. Vom Einsatz der jetzigen Pächterin, Patricia Krusenbaum, ist er begeistert. "So muss eine Wirtin arbeiten!" Wenn demnächst die renovierte Küche fertig ist, wird es im "Schwanen" wieder Hausmannskost wie zu seiner aktiven Zeit geben.

Der Begriff "Ruheständler" trifft auf ihn eigentlich auch heute nicht zu: "Ich muss immer was zu schaffe hawwe", erzählt Riedel, der mittlerweile zum Ladenburger Original geworden ist. Das Nebenhaus des "Schwanen" hat er vor einigen Jahren erworben und vermietet, im Keller hat er sich eine kleine Werkstatt eingerichtet. Und auch heute noch ist er "seinem" Lokal treu. Ausgiebige Morgen-Spaziergänge gehören zu seinem Alltagsritual nämlich ebenso dazu, wie der "Schwanen"-Stammtisch am Abend, bei dem die erste Frage immer ist: "Artur, was gibt es Neues?" "Wir treffen uns hier zum betreuten Trinken", scherzt einer von ihnen.

Artur Riedels Wünsche für die Zukunft sind bescheiden: "Bei guter Gesundheit hier zu sitzen, auf den Marktplatz zu blicken und zu beobachten, wie sich die Gäste wohlfühlen – mehr brauche ich nicht in meinen alten Tagen."

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