Vorführung "#die Welle 2023" im Werkraumtheater
Gewissen und Mitgefühl gehen unter.

Von Sebastian Lerche
Walldorf. Am Anfang stellen sie sich vor: die Sportskanone, die Glamouröse, die Schülerzeitungsredakteurin, die Wichtigtuerin, die Außenseiterin und die anderen. Sie geben sich zielstrebig, selbstbewusst, leutselig, peppig, scheu oder unangepasst. Junge Leute, mit denen man sich leicht identifiziert – aber was immer sie an Glanz und Kanten haben, wird stumpf, ihre Einzigartigkeit geht verloren, als "die Welle" sich aufbaut.
Die Verführungskraft des Faschismus: Im Rahmen der Walldorfer Theatertage bot das Werkraumtheater eine zeitgemäße Adaption des bekannten Buchs von Todd Strasser, veröffentlicht unter dem Pseudonym Morton Rhue. Zwölf Mädchen im Alter zwischen 13 und 17 Jahren spielen unter Leitung von Jasmin Rahimi-Laridjani in "#die Welle 2023" Lehrerinnen und Schülerinnen, die eine neue Bewegung starten, aufblühen, sie propagieren und für sie streiten – und jene, die sie kritisieren und demontieren, bis der Konflikt zu eskalieren droht.
Eine Lehrerin will spürbar werden lassen, wie Nazi-Regime und Holocaust möglich waren. Sie will ihren Schülerinnen die Illusion rauben, dass dies heute unvorstellbar wäre, weil sie "viel zu aufgeklärt" sind und es "allmählich kapiert" haben. Sie will verdeutlichen, dass Demokratie und Rechtsstaat harte Arbeit und eine Verantwortung sind, aus der auch jede neue Generation nicht entlassen werden kann. Ein bei allen wahren, erschütternden Schilderungen ziemlich dröger Film über den Völkermord jedenfalls dringt nicht durch den Dünkel ihrer Schülerinnen, die meinen, bereits alles zu wissen und das alles abgehakt zu haben.
Die Schauspielerinnen wirken sympathisch und echt: Selbst als sie, von der "Welle" mitgerissen, grausamere Züge zeigen, kann man mit ihnen fühlen. Die Unmenschlichkeit stellt sich schleichend ein. Beim Lernen, fürs Basketball-Spiel oder zum Gestalten der Schülerzeitung sind mehr Ordnung und Disziplin willkommen – was immer offensichtlichere militärische Züge annimmt. Aus Teamgeist wird Fanatismus.
"Ihr seid besessen", lautet ein Vorwurf an die Mitglieder der "Welle". Dabei zieht sie einfach das Gefühl an, Teil von etwas Besonderem, etwas Besseres zu sein – mit Kameraden, bei denen die ständigen Vergleiche, Neid und Wetteifern nicht mehr nötig sind. Über Unsicherheit und Zukunftssorgen legt sich eine dämpfende Decke, leider auch über Urteilsvermögen, Gewissen und Mitgefühl.
Die Logik scheint unbestreitbar: "Wir sind alle gleich und Teil einer Gemeinschaft – dann müssen wir auch einer Meinung sein." Was ist mit Andersdenkenden? Oder jenen, die als anders wahrgenommen oder hingestellt werden? Das Publikum erfährt von Mobbing und Prügeleien. Denkwürdig das im Chor gebrüllte "Schnauze!", als die "Welle"-Anhängerinnen mit Vorwürfen von Aggressivität, Ausgrenzung und Gewalt konfrontiert werden.
Die Kulisse besteht aus nüchternen Paneelen, in kühl-blaues LED-Licht getaucht, die Ausstattung ist mit ein paar Stühlen, Tischen und Trennwänden spartanisch. Die Kostüme spiegeln wider, was die "Welle" an Individualität und kritischem Denken wegspült, mal lässige, mal schrille Teenager-Klamotten werden durch Schuluniformen ersetzt. Mimik und Gestik gleichen sich an, angefangen beim plötzlich Pflicht gewordenen Gruß.
Nicht nur der Titel verortet das Stück im Hier und Heute, auch Anspielungen auf Internet und soziale Medien, auf den NSU, Querdenker, AFD sowie auf aktuelle rechtspopulistische und verharmlosende Äußerungen. Umfragen werden zitiert, denen zufolge weltweit eine Mehrheit sich in diesen schwierigen Zeiten eine "starke Hand" wünsche. Es bleibt dem Publikum überlassen, über den mühseligen Gegenentwurf nachzudenken: aktiv mitgestalten und Verantwortung übernehmen.
Info: Das Stück "#die Welle 2023" wird am Samstag, 28. Oktober, 18 Uhr, und Sonntag, 19. November, 17 Uhr, im Werkraumtheater, Hauptstraße 11 in Walldorf, erneut gezeigt. Weitere Termine und Infos sind auf www.werkraumtheater.de zu finden.