"Unser Leben wurde auf den Kopf gestellt"
Ein Jahr Krieg in der Ukraine: In Eberbach kommt die getrennte Familie Trefilov nach elf Monaten wieder zusammen.

Von Peter Bayer
Eberbach. Am 18. Februar ist Kateryna Trefilov mit ihrem jüngsten Sohn Petro in den Urlaub nach Sansibar geflogen, während Ehemann Nikolay mit dem älteren Sohn Vasay in Irbin, einem Vorort von Kiew geblieben war. Vasay startete wenige Tage später bei einem Orientierungslauf auf Skiern. Am 26. Februar war die Rückkehr der Urlauber geplant. Doch dann kam der 24. Februar und mit ihm der Krieg. Es sollte bis zum 21. Januar – fast elf Monate – dauern, bis die Familie wieder zusammenkam. Aber nicht in ihrer Heimat, sondern in Eberbach – zu fünft. Denn was damals noch keiner wusste: Kateryna war zu Beginn des Krieges schwanger.
Der 24. Januar war der Tag, der das Leben der Familie komplett auf den Kopf gestellt hat. Nikolay erinnert sich noch genau. "Es war gegen 4.30 Uhr, als ich die Raketen und den Alarm hörte." Auf Youtube und Nachrichtenkanälen hat er erfahren, was passiert ist. "Ich konnte es zunächst nicht glauben, war geschockt, habe es dann aber realisiert." Als erstes hat er das Auto aufgetankt und mit seinen Arbeitskollegen gesprochen, was sie machen sollen. Sie waren sich einig, nicht in die Arbeit zu gehen. Im Supermarkt hat er noch am selben Tag das Nötigste eingekauft. Bis 5. März blieben beide in Irbin. "Es war eine schreckliche Zeit, ständig flogen Raketen und fielen Bomben", erinnert er sich. Als die Raketen in der Nähe einschlugen hat das Haus gebebt. Mit Schutzhelmen haben er und Vasay sich unter der Betontreppe aufgehalten – dem sichersten Platz im Haus. Es gab Straßenkämpfe, einen Kilometer von seinem Haus entfernt wurde gekämpft, waren Panzer. Vom zweiten Stock aus hat er den Rauch über den Ruinen gesehen. Als die Elektrizität ausgefallen und die Situation völlig außer Kontrolle geraten war, beschloss er in die Westukraine zu fahren. Früh am Morgen des 5. März hat er sein Auto beladen und ist mit seinem Sohn zu Freunden an die Grenze zu Ungarn gefahren, wo es sicherer war.

Derweil hatte Kateryna in Sansibar mit anderen Problemen zu kämpfen. Am 26. Februar war der Rückflug geplant, doch in der Ukraine waren alle Flughäfen geschlossen. Es gab nur Flüge nach Europa, doch die Tickets waren teuer und sie hatte nicht genug Geld dafür. Zudem mussten sie das Hotel verlassen und ein anderes Zimmer mieten. Zwei Wochen waren sie dort, während Kateryna versuchte, einen billigen Flug nach Europa zu finden. Inzwischen hatte sie auch erfahren, dass sie schwanger ist.
Zusammen mit ihrem Mann hat sie telefonisch besprochen, wie es weitergehen soll. "Es gab zwei Möglichkeiten", erklärt Nikolay. Zum einen Flucht in die Westukraine, zum anderen nach Europa, und hier Deutschland. Für Deutschland sprachen mehrere Gründe. Er kannte Freunde in Deutschland, die vorher mit ihm gearbeitet oder studiert hatten. "Sie erzählten mir, dass Deutschland ein stabiler Staat mit geringer Kriminalität ist." Zudem war Nikolay, der im Windenergiesektor arbeitet, mit einer deutschen Firma in Verbindung gewesen. Da Deutschland eine führende Nation in der Windenergie sei, könne er dort leicht einen Job finden.
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Für Kateryna dauerte der Flug nach Deutschland zwei Tage. Über Dubai ging es nach Budapest, von dort weiter an die Grenze zur Ukraine. Hier traf die Familie kurz zusammen, damit Nikolay seinen Sohn Vasay der Mutter übergeben konnte. Er selbst durfte die Ukraine nicht verlassen. Für Kateryna und die beiden Söhne ging es zunächst nach Dortmund, wo sie zwei Tage in einem Auffanglager verbrachten. Auf einer Website wurde sie auf die Anzeige einer Eberbachin aufmerksam, die anbot, eine Familie aus der Ukraine aufzunehmen.
"Ich wollte helfen", sagt Jessica Beisel. "Ich habe meine eigene Mutter mit vier Kindern vor mir gesehen. In so einer Situation wären wir auch über jede Hilfe froh gewesen", erklärt sie, warum sie auf mehreren Plattformen eine Anzeige reingestellt hat. Wen oder wie viele Personen sie aufnimmt, wusste sie im Vorfeld nicht. Doch das Zusammensein verlief problemlos. "Wir haben schnell Vertrauen zueinander gefasst." Sie half der Familie bei den Ämtern, ging mit ihnen aufs Rathaus, ins Jobcenter oder Bürgerbüro, stellte Kontakte zu den Lehrern her und kümmerte sich um ein Unterstützungspaket im Sportverein für die sportbegeisterte Familie.

Die integrierte sich schnell in ihrer neuen Heimat – ob die Mama beim Zumba oder die Kinder im Schwimmen und Tischtennis beim Turnverein. Nur auf Orientierungsläufe, wo sie in der Ukraine Wettbewerbe gewonnen hatten, müssen sie verzichten. "Der Sport ist wichtig für die Kinder, um sich abzulenken", sagt Kateryna. Als Gegenleistung für das kostenlose Wohnen übernahm die begeisterte Köchin Kateryna das Einkaufen und kochte. "Jessica hat viel Freizeit geopfert, ich bin ihr sehr dankbar." In ihren Dank schließt sie auch deren Familie und Freunde ein, die mithalfen. Auch beim Umzug in die jetzt eigene Wohnung.
Von einer solchen Situation konnte viele Kilometer weiter Nikolay Trefilov in der Ukraine bis vor Kurzem nur träumen. Sein Leben war von einem auf den anderen Tag ruiniert: getrennt von Frau und Kindern, den Job verloren, kaum Geld. Vor dem Krieg hatten sie gut verdient, seine Frau war Kinderärztin in einer Privatklinik, er arbeitete an einem Projekt für einen großen Windpark in Europa. Für die Familie war es nicht die erste Flucht. 2014 mussten sie schon einmal vor dem Krieg fliehen, damals aus Donezk. Sie haben alle Ersparnisse in das gekaufte Haus und ins Auto gesteckt.
Während die Familie in Sicherheit war, lebte Nikolay in ständiger Ungewissheit. Einen Monat lang hatte er keine Ahnung, was mit seinem Haus war. Hier wenigstens hatte er Glück gehabt. Als er von Kiew, wo er bei einem Freund untergekommen war, wieder nach Irbin zurückkehrte, stand das Haus noch, nur eine Scheibe war zu Bruch gegangen – lediglich das zweite Auto war total zerstört. Nachbarn in der Straße hatten weniger Glück, von sechs Häusern erinnerten nur noch Trümmer.
Als im November die kleine Ulyna das Licht der Welt erblickte, änderte sich nicht nur das Leben der Trefilovs in Eberbach – auch für Nikolay hatte es Folgen. Bei drei Kindern dürfen die Väter die Ukraine verlassen. Auch wenn er es kaum mehr erwarten konnte, dauerte es noch gut zwei Monate, bis die Geburtsurkunde übersetzt und an der richtigen Stelle angekommen war. Am 20. Januar hat er sich um 14 Uhr in sein Auto gesetzt. "Es war eine harte Reise durch Polen. Ich habe nur zum Tanken und aufs Klo gehen angehalten", sagt er. Nach 20 Stunden konnte er dann endlich seine Familie umarmen und zum ersten Mal seine Tochter im Arm halten.
Für die beiden 39-Jährigen stellt sich nun die Frage "Wie soll es weitergehen?". Die Hoffnung, dass der Krieg bald zu Ende geht, ist bei beiden nicht sehr groß. Bliebe Deutschland als Alternative. Kateryna ist seit 16 Jahren Kinderärztin, sie liebt ihren Job. Selbst jetzt noch wird sie telefonisch aus der Ukraine um Rat gefragt. Ich habe zehn Jahre Erfahrung in der Windkraft, ich glaube, ich kann hier nützlich sein, ist Nikolay überzeugt – und lernt fleißig Deutsch.