Gewalt gegen Frauen - Wenn das Zuhause zur Hölle wird
Gewalt gegen Frauen kommt in allen sozialen Schichten vor. Und geschieht fast immer im familiären Umfeld. Nach einem Übergriff zählt jede Stunde. Der Weg sollte direkt in die Gewaltambulanz führen.

Von Anjoulih Pawelka und Anna Manceron
Die Gewalt kommt schleichend. Sie ist nicht immer gleich sichtbar, versteckt sich manchmal auch unter einem Mantel aus Liebenswürdigkeiten. Doch irgendwann zeigt sie sich. Es sind Kleinigkeiten, die sich verändern. Vielleicht fängt es damit an, dass die Frau ihr selbst verdientes Geld nicht mehr behalten darf und an ihren Partner abgeben muss. Irgendwann wird sie erniedrigt, beleidigt, geschlagen. Manchmal läuft es auch ganz anders ab.
Was die Frauen, die zu Britta Schlichting und Esther Ehrenbrand ins Heidelberger Frauenhaus kommen, verbindet: Sie mussten fliehen, weil die Situation in ihren eigenen vier Wänden unerträglich wurde – vor ihren gewalttätigen (Ex)Partnern, Ehemännern und Vätern ihrer Kinder. Manchmal auch vor ihren Familien. "Gewalt kommt in allen sozialen Schichten und Religionen vor", sagt die Sozialpädagogin Schlichting, die betont, dass sie und ihre Kolleginnen nicht zwischen psychischer, sexueller und körperlicher Gewalt unterscheiden.
Für Professor Kathrin Yen hingegen ist es wichtig, genau zu differenzieren, was einer Frau angetan wurde. Die Rechtsmedizinerin leitet die Gewaltambulanz des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin in Heidelberg. Dort haben sich im vergangenen Jahr etwa 180 erwachsene Frauen untersuchen lassen. "Die meisten körperlichen und sexuellen Übergriffe passieren im häuslichen Umfeld durch nahe Verwandte oder Bekannte", erklärt Yen. Oft handle es sich dabei um Konflikte innerhalb der Partnerschaft oder Familie. "Ein Übergriff auf offener Straße oder generell im öffentlichen Raum kommt eher selten vor", sagt die Rechtsmedizinerin.
Laut dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend starben 2018 insgesamt 122 Frauen durch Gewalt in der Partnerschaft. Das heißt: Jeden dritten Tag erlag eine Frau den Verletzungen, die ihr Partner ihr zugefügt hat. Mehr als einmal pro Stunde wird statistisch gesehen eine Frau durch ihren Partner physisch gefährlich verletzt. Tendenz steigend. Denn laut dem Bundeskriminalamt ist die Zahl der weiblichen Opfer von Gewalt in der Partnerschaft zwischen 2014 und 2018 um 11,5 Prozent angestiegen.
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Häusliche Gewalt trete vor allem in Form von Schlägen oder Tritten sowie Griffen gegen den Hals und Würgen auf, berichtet Kathrin Yen. Aber auch mit Messerstichen und Festhalte- sowie Fesselspuren sind die Rechtsmediziner oft konfrontiert. Manche Frauen werden auch absichtlich angefahren. Meistens melden sich die Betroffenen selbst oder ein behandelnder Arzt bei der Gewaltambulanz. Professor Yen und ihr Team untersuchen die Opfer nicht nur, sondern sichern auch Spuren. Sie nehmen DNA-Proben, machen Ultraschall- oder Röntgenaufnahmen und fotografieren die Verletzungen. Auch K.o.-Tropfen lassen sich in Blut und Urin nachweisen. Die Befunde können später als Beweise vor Gericht angeführt werden.
Wenn eine Frau die Gewaltambulanz aufsucht, muss sie nicht sofort entscheiden, ob sie den Täter anzeigen will. DNA-Spuren werden in der Regel zwölf Monate lang aufbewahrt, Fotos und andere Unterlagen deutlich länger. Allerdings sind DNA-Spuren nach sexueller Gewalt maximal 72 Stunden lang nachweisbar, bei K.o.-Tropfen sind es sogar nur wenige Stunden. Deshalb zählt nach einem Übergriff jede Stunde. "Die Frauen sollten sich so früh wie möglich vorstellen, am besten gleich nach einem Ereignis", betont Yen. In der Gewaltambulanz erhalten sie auch Telefonnummern und Adressen von Beratungs- und Hilfseinrichtungen.
Im Heidelberger Frauenhaus haben Britta Schlichting und ihre Kolleginnen im letzten Jahr insgesamt 40 Frauen und deren Kinder aufgenommen. Nicht einmal ein Drittel derer, die eigentlich Hilfe gebraucht hätten. 152 Frauen mit 201 Kindern mussten Schlichting und ihr Team abweisen. Es fehlt einfach der Platz. Auch weil viele der Frauen keinen bezahlbaren Wohnraum finden. "Manche könnten eigentlich schon nach drei bis vier Monaten in ihre eigene Wohnung ziehen", sagt Schlichting.
Sie glaubt nicht, dass die Gewalt gegen Frauen in den letzten Jahren zugenommen hat. "Die Gesellschaft geht nur anders damit um." Heute würden viele Opfer darin bestärkt, ihren Partner zu verlassen. "Frauen bekommen von der Gesellschaft signalisiert: Ihr müsst das nicht aushalten", sagt Britta Schlichting. Trotzdem bleiben die Betroffenen unterschiedlich lange bei ihrem gewalttätigen Partner. Dennoch hat Schlichting den Eindruck, dass sich viele heute früher trennen. Das macht sie daran fest, dass die Kinder, die im Frauenhaus wohnen, jünger sind.
Wie die Frauen dort hinkommen, ist unterschiedlich. Manche rufen in der Beratungsstelle des Frauenhauses an, andere kommen über die Polizei oder wählen die Notfallnummer, die außerhalb der Telefonzeiten des Frauenhauses erreichbar ist. Fast die Hälfte der Frauen, die 2019 im Frauenhaus lebten, waren Notfälle. Das heißt, sie mussten in der Nacht oder am Wochenende ungeplant fliehen. Diesen Frauen bleibt für den Start in ihr neues Leben nicht mehr als ihre Handtasche und eine schnell gepackte Tüte.
Wenn sie im Frauenhaus ankommen, bräuchten sie vor allem Schutz, Ruhe und die Gewissheit, dass ihnen jemand glaubt und sie ernst nimmt, sagt Sozialpädagogin Esther Ehrenbrand. Denn oft schämten sich die Frauen, mit ihrer Geschichte nach außen zu gehen. Nicht selten würden sie gefragt, ob es nicht das Beste für die Kinder sei, wenn sie trotz allem bei ihrem gewalttätigen Mann blieben. Oder dass das Umfeld schon zu Beginn der Beziehung skeptisch gegenüber dem Partner gewesen sei.
Oft ist nicht gleich erkennbar, dass der Partner irgendwann gewalttätig wird. Es gibt aber durchaus Muster und Warnsignale, die häufig vor Gewalttaten auftreten. Am Anfang der Beziehung fordere der Mann zu früh zu viel, so Ehrenbrand. Er "überhöhe" die Frau und sage ihr etwa schon nach drei Tagen, dass er sie liebe. Später kehrt sich das Ganze ins Gegenteil um.
Doch was kann jeder Einzelne tun, um die Welt für Frauen ein bisschen sicherer zu machen? Wenn man mitbekommt, dass eine Frau von Gewalt betroffen ist, sollte man ihr zuhören und nicht über ihren Kopf hinweg entscheiden und Hilfsangebote nennen, sagt Esther Ehrenbrand. Und ganz wichtig: "Nicht wegschauen und auch nicht verharmlosen."
Die Rechtsmedizinerin Kathrin Yen sieht auch das medizinische Personal in der Pflicht, nicht wegzuschauen. Gerade als Arzt sei es wichtig, nachzufragen, ob Gewalt die Verletzungen verursacht hat. "Die konkrete Ansprache kann die Möglichkeit eröffnen, sich jemandem anzuvertrauen", sagt sie. Eine rechtsmedizinische Untersuchung und Spurensicherung helfe, Klarheit über das Erlebte zu bekommen – unabhängig davon, ob es am Ende zu einem Gerichtsverfahren kommt.
Für Edith Kutsche vom Heidelberger Frauennotruf hat das Problem noch eine andere Dimension. Sie findet, dass es gesellschaftliche Strukturen gibt, die Gewalt gegen Frauen begünstigen. Dass Männer in der Partnerschaft häufiger gewalttätig werden, liege auch an einem generellen Machtungleichgewicht. "Männer haben einen besseren Zugang zu Führungspositionen und verdienen oft mehr", sagt die Erziehungswissenschaftlerin.
Außerdem gebe es noch immer viele Mythen, die sich hartnäckig hielten. "Zum Beispiel, dass Frauen es genießen, wenn ihr Widerstand gebrochen wird", so Kutsche. Ihr Tipp lautet deshalb: "Immer auf die eigenen Grenzen achten und auf sein Gefühl vertrauen." Oft testen die Täter, wie weit sie gehen können – zunächst mit verbalen Angriffen. Wenn man sich in einer solchen Situation unwohl fühlt, sollte man für sich selbst sorgen und gegebenenfalls Hilfe holen, meint Kutsche.