Weltfrauentag

Helene Stöcker - eine beeindruckende Kämpferin

Helene Stöcker kämpfte ihr Leben lang gegen eine verlogene Sexualmoral und für Frauenrechte

02.03.2020 UPDATE: 08.03.2020 06:00 Uhr 4 Minuten, 48 Sekunden
Helene Stöcker war einerseits vom sozialistischen Weltbild August Bebels, dann aber auch von der Sexualaufklärung Sigmund Freuds geprägt. Den von ihr gegründeten Bund für Mutterschaft nannte sie bald in Deutscher Bund für Mutterschutz und Sexualreform um. Foto: Archiv/Repro

Eine Würdigung von Gabriele Lohmann

Helene Stöcker war eine beeindruckende Kämpferin zunächst für Mutterschutz und Sexualreform und später für Pazifismus. Geboren am 13. November 1869 in Elberfeld bei Wuppertal, einer Region mit jahrhundertealter Tradition des Textilgewerbes, wuchs sie als älteste Tochter von acht Kindern auf. Der Vater wäre am liebsten Missionar geworden, betrieb aber ein Geschäft mit Werkstatt für Textilzubehör wie Fransen, Bänder und Schnüre. Beide Eltern gehörten aktiv zur Reformierten Kirchengemeinde. Neben dem täglichen Lesen in der Bibel wurde auf Hilfsbereitschaft, Gleichwertigkeit aller Menschen und eine antikapitalistische Gesinnung Wert gelegt.


"Was niemand anfängt, wird niemals fertig."

Die polnisch-deutsche Autorin Margarete Stokowski über
die französische Revolutionärin und Frauenrechtlerin Olympe de Gouges (1748–1793)


Helene besuchte nach der Volksschule eine Höhere Töchterschule und wollte anschließend mit Hilfe des Lehrerinnenexamens ein Universitätsstudium beginnen. Aus ihren Jugendjahren ist nur überliefert, dass sie auffällig früh ein heftiges Schreib- und Lesebedürfnis entwickelte. Bertha von Suttners "Die Waffen nieder" war eine frühe, sehr prägende Lektüre für sie. Durch die Gretchentragödie in Goethes Faust erahnte sie schon damals die Gewalt und die Tragik von Geschlechterbeziehungen. Als 19-Jährige las sie tief beeindruckt August Bebels "Die Frau und der Sozialismus", mit 21 näherte sie sich dem Gedankengut Nietzsches. Da sie das Lehrerinnenexamen in Berlin ablegen musste, um zum Abitur und zum Studium zugelassen zu werden, konnte sie 1892 das sehr enge und orthodoxe Milieu ihrer Heimatstadt und Familie verlassen.

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Berlin war durch einen sprunghaft angestiegenen Bevölkerungszuwachs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch zu einer Arbeiterhochburg mit vielen politischen und kulturellen Aktivitäten und extremen sozialen Spannungen geworden. Der Vater bewilligte und finanzierte Helene das Studium sowie auch die anschließende Promotion. In Berlin studierte sie als geduldete Gasthörerin Literaturgeschichte, Philosophie und Nationalökonomie, für die sich anschließende literaturwissenschaftliche Promotion über ein Romantikthema musste sie nach Bern ausweichen und schloss die Arbeit 1901 dort als eine der ersten Frauen erfolgreich ab. Der Lehrerinnenberuf hatte sie nie interessiert, sie wollte schriftstellerisch und journalistisch tätig sein, für die Gleichberechtigung der Geschlechter und für eine neue Ethik kämpfen. Da ihr in Berlin sofort Vorurteile gegen weibliche Studierende entgegentraten, engagierte sie sich gleich zu Studienbeginn im Verein studierender Frauen, hielt dort auch Vorträge und lernte Gleichgesinnte kennen.

Durch die Industrialisierung und die veränderten ökonomischen Verhältnisse und eine zunehmende Ehelosigkeit war in der Großstadt Berlin das Elend unehelicher Mütter greifbar. Helene Stöcker fand es widersinnig, Mutterschaft und Mütterlichkeit einerseits als eine große Leistung der Frauen zu verklären und doch keine Bedingungen zu schaffen, unter denen ein Kind ohne Not und Schande auch außerhalb einer Ehe zur Welt gebracht und betreut werden konnte. Sie forderte die ethische und rechtliche Besserstellung unehelicher Mütter und ihrer Kinder, die Einführung einer staatlichen Mutterschaftsversicherung, Sexualaufklärung, Empfängnisverhütung, die Freigabe der Geburtenregelung, die Anerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, ein körperliches und geistiges Selbstbestimmungsrecht der Frau in dem Ausmaß, wie es immer schon dem Mann zustand. Die in bürgerlichen Kreisen übliche konventionelle Ehe mit ihrer Doppelmoral lehnte sie rigoros ab, denn die hatte zur Folge, dass sich Männer bei Prostituierten auslebten und Frauen zur Enthaltsamkeit verdammt waren. Fast die Hälfte der Frauen zwischen 15 und 50 Jahren war damals unverheiratet, und es kam nicht von ungefähr, dass sich nicht nur Sigmund Freud mit weiblicher Hysterie auseinandersetzte, sondern Sexualwissenschaft ein regelrechtes Modethema wurde.

1905 gründete Helene Stöcker in Berlin den Bund für Mutterschutz, um vor allem die Stellung der Mutter in rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu reformieren – bald gab es 4000 Mitglieder (ein Drittel davon Männer) mit Ortsgruppen in zwölf Städten. Es entstanden Heime für ledige Mütter sowie Ehe- und Sexualberatungsstellen, ähnlich wie es heute Pro Familia anbietet. Ab 1908 nannte sich der Verein sogar "Deutscher Bund für Mutterschutz und Sexualreform" (BfMS) und galt bald als staatsgefährdend, da es neben den mutterrechtlichen Plänen letztlich auch um die sexuelle Selbstbestimmung der Frau und um neue Lebensformen ging.

Schon August Bebel schrieb in seinem Jahrhundertwerk: "Die Befriedigung des Geschlechtstriebs ist eine Notwendigkeit für die gesunde physische und geistige Entwicklung des Mannes wie der Frau." Bekannte Ärzte und Sexualwissenschaftler wie Iwan Bloch, Max Marcuse und Magnus Hirschfeld arbeiteten eng mit dem BfMS zusammen und veröffentlichten detaillierte Studien über die menschliche Sexualität mit all ihren Facetten. Freud publizierte in der Zeitschrift "Mutterschutz", die 1908 in "Die Neue Generation" umbenannt wurde, und er war auch Vorstandsmitglied. Stöcker war erste Vorsitzende des Vereins und Schriftleiterin der Zeitschrift, die bis 1932 existierte. Intern wurde viel gestritten, vor allem die geforderte Abschaffung der Paragrafen 218 und 175 und die sexualreformerischen neuen Lebensformen waren ein Debattenthema. Die im Sinne der "Neuen Ethik" geforderte ideale freie Liebe und Sexualität zwischen Mann und Frau drückte eine Art Sehnsucht nach einem höheren bzw. besseren Menschgeschlecht (Nietzsche) aus. Die Kinderzahl sollte sich nach den ökonomischen, psychischen und physischen Gegebenheiten des idealisierten Elternpaars richten. Gedanken über Rassenhygiene und Eugenik gesellten sich hinzu, standen allerdings nicht im Vordergrund.

Helene Stöcker reiste viel im In- und Ausland, hielt Vorträge und war durch ihre Redegewandtheit, Ausstrahlung und Überzeugungskraft eine Art Publikumsmagnet bei den verschiedensten öffentlichen Veranstaltungen. Seit 1905 verband sie eine Lebensgemeinschaft mit Bruno Springer, einem Rechtsanwalt, mit dem sie seit 1912 (bis zu seinem Tod 1931) in Berlin auch zusammenlebte. Nach einer schwierigen und enttäuschenden Beziehung in jungen Jahren zu einem zehn Jahre älteren Germanistik-und Philosophieprofessor, der eine Zeit lang in Glasgow lehrte, wo sie auch ein Semester studierte, und der ihre Freiheitsbedürfnisse nicht respektierte, glaubte sie nun, mit Springer eine Basis im Sinne der neuen Ethik gefunden zu haben. In ihrem 1922 veröffentlichten, viel gelobten und sehr lesenswerten Roman "Liebe" hat sie ihre persönlichen Erfahrungen mit beiden Männern verarbeitet und ihr romantisches Liebesideal zwischen zwei im Innern und Äußern freien Wesen fesselnd dargestellt. Dem Bestseller wurde ein überwältigender Wert und Wahrheitsgehalt zugesprochen.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, ging Bruno Springer als kriegsfreiwilliger Jude an die Front, während Helene in der Friedensbewegung aktiv wurde. Diverse Krankheiten und Gewichtsprobleme hielten sie letztlich nicht davon ab, sich in vielen pazifistischen Organisationen zu engagieren. Dass Kirche, Wissenschaft, die geistige Elite und die sozialistischen Parteien kriegsbegeistert und kriegszustimmend waren, betrachtete sie als Zusammenbruch der Kultur überhaupt und trat 1915 aus der Kirche aus. Die im selben Jahr stattfindende Internationale Frauenkonferenz in Den Haag, bei der über 2000 Frauen aus 13 europäischen Ländern, den USA und Kanada zusammenkamen, bereitete Stöcker mit vor. Sie wurde 1919 Vizepräsidentin der "Deutschen Friedensgesellschaft" und gehörte zu den Mitbegründerinnen der "Internationale der Kriegsdienstgegner". Der Erste Weltkrieg war für sie ein Rückfall in das Zeitalter der Hexenverbrennungen und der Barbarei. 1916 wurde ihr unter Androhung von Schutzhaft Redeverbot erteilt.

Stöcker machte unermüdlich weiter, richtete den Bund nach Kriegsende pazifistisch und damit neu aus, der BfMS trat dem 1922 gegründeten Deutschen Friedenskartell bei, organisierte weitere Kongresse für Sexualreform und arbeitete mit dem Magnus-Hirschfeld-Institut zusammen. 400 Zeitungen im In- und Ausland würdigten 1929 Helene Stöckers Engagement und Persönlichkeit anlässlich ihres 60. Geburtstags, Ende März 1930 fand dann die Jahrestagung zum 25-jährigen Bestehen des Bundes statt. Dennoch: Im März 1933 wurde der BfMS von nationalsozialistischen Frauen übernommen. Nach der Reichstagswahl kehrte Helene Stöcker kurz nach Berlin zurück, überließ ihre Wohnung zwei Schwestern und ging zunächst bis 1938 in die Schweiz. Krank und finanziell in prekärer Lage halfen ihr bei ihrer Odyssee über England, Skandinavien, Russland und Japan in die USA immer wieder einzelne Menschen. Eine chronische Grippe und vor allem die 1941 diagnostizierte Brustkrebserkrankung ermöglichten ihr keinen wirklichen Neuanfang in Amerika. "Unrecht leiden ist besser als Unrecht tun", schrieb sie an eine alte Freundin. Am 23. Februar 1943 starb Helene Stöcker im New Yorker Exil.