Dank Corona weniger extrem frühe Geburten
Während der Pandemie ging die Zahl signifikant zurück. Neonatologe Gille: Möglicherweise wirkten sich die Hygienemaßnahmen auf das Mikrobiom im Unterleib aus.



Professor für Neonatologie am Heidelberger Universitätsklinikum
Von Julia Lauer
Heidelberg. Kinder, die vor der 37. Schwangerschaftswoche und die damit mehr als drei Wochen zu früh zur Welt kommen, gelten als Frühgeborene. Die Zahl der extrem früh geborenen Kinder ging zuletzt zurück. Im Interview erklärt Christian Gille, Professor für Neonatologie am Heidelberger Universitätsklinikum, woran das wohl liegt, wie er den kleinsten Patienten hilft und was sich in der Forschung tut.
Herr Professor Gille, zunächst mal für den Überblick: Wie viele Kinder kommen zu früh zur Welt?
Rund zehn Prozent der Menschen zählen als Frühgeburten – weil sie mehr als drei Wochen zu früh geboren werden. Aber früh ist nicht gleich früh. Rund ein Prozent der Menschen weltweit wird sehr früh geboren. Diese Menschen werden kürzer als 30 Wochen im Mutterleib ausgetragen.
Es gibt Berichte, wonach die Anzahl der Frühgeburten zuletzt abnahm. Anderen Statistiken zufolge ist die Zahl konstant. Was stimmt denn nun?
Hier kommt es darauf an, wie frühzeitig die Kinder geboren wurden. Bei den extrem früh geborenen Kindern hat sich etwas getan. Mit dem ersten Lockdown während der Corona-Pandemie ging ihre Zahl zurück, und zwar signifikant: In Deutschland, in vielen westeuropäischen Nachbarländern sowie in den USA beobachten wir bis zu 30 Prozent weniger extrem frühe Geburten.
Gilt das auch für Heidelberg?
Heidelberg ist die Stadt mit der niedrigsten Geburtenrate in ganz Baden-Württemberg. Für Heidelberg allein ist das schwer festzustellen.
Wie erklären Sie sich das, dass der Lockdown mit weniger Frühgeburten einherging?
Kein Erklärungsansatz ist bisher erfolgreich. In Heidelberg arbeiten wir zusammen mit Kollegen aus Jena an der Frage, welche Bündel an Faktoren ursächlich gewesen sein könnten.
Wohin geht Ihre Vermutung?
Dafür muss ich etwas ausholen: Es gibt zwei Faktoren, die Frühgeburten auslösen können. Beispielsweise eine Schwangerschaftsvergiftung. Hier beendet man die Schwangerschaft vorzeitig, ehe Mutter und Kind gefährdet werden. Es kann aber auch vorkommen, dass die Fruchtblase vorzeitig platzt und Wehen eintreten. Grund sind Infektionen im Geburtskanal. Sie werden oft von Keimen hervorgerufen, die dort natürlicherweise siedeln, die jedoch in der Schwangerschaft in eine Infektion umschlagen können. Vermutlich hängt das mit dem abgeschwächten Immunsystem zusammen, das notwendig ist, damit die Mutter ihr werdendes Kind nicht abstößt.
Und wie hat sich der Lockdown hier ausgewirkt?
Wir untersuchen nun, inwieweit sich die Maßnahmen – weniger Reisen, weniger Besuch – auf das Mikrobiom im Geburtskanal ausgewirkt haben könnten.
Sie sagen also, der Lockdown soll Einfluss auf die Zusammensetzung der Vaginalschleimhaut haben?
Das Mikrobiom ist normalerweise sehr stabil, doch das ist anders in der Schwangerschaft. Und das Mikrobiom im ganzen Körper hängt zusammen. Wir wissen, dass das Mikrobiom auf den Eihäuten, die den Fötus umgeben, am stärksten dem Mikrobiom in der Mundhöhle ähnelt. Nun erforschen wir, ob das Maske-Tragen sich auf Veränderungen der Mundschleimhaut und somit auch auf den Reproduktionstrakt ausgewirkt haben könnte. Davon erhoffen wir uns Erkenntnisse, die uns bei der Vorbeugung von Frühgeburten helfen.
Sind Frühgeburten denn absehbar?
Es gibt Risikofaktoren: Wenn dasselbe Elternpaar schon einmal einen frühen Abgang des Embryos erlebt hat, aber auch ein sehr junges und ein höheres Alter der Frau sowie sozioökonomische Faktoren. Doch mit den meisten Frühgeburten ist man recht kurzfristig konfrontiert.
Und wenn Sie von Vorbeugung sprechen: Wie funktioniert das?
Bei der Schwangerschaftsvergiftung sind Immuntherapeutika in der Entwicklung, auch unter Heidelberger Beteiligung. Diese Medikamente sollen die Immunsysteme von Mutter und Kind in Einklang bringen. Bei der anderen Ursache von Frühgeburten, wobei Keime in der Schwangerschaft zu Infektionen führen, arbeiten wir daran, das Mikrobiom im Geburtskanal so zu stabilisieren, dass es dem Infektionsgeschehen entgegenwirkt. Das ist ein vielversprechender Ansatz.
Bis zu welcher Schwangerschaftswoche haben Frühchen denn überhaupt eine Chance, sich normal zu entwickeln?
Ab der 28. Schwangerschaftswoche und einem Gewicht von mehr als 1000 Gramm überleben die meisten Kinder, und auch körperliche und geistige Beeinträchtigungen spielen hier eine geringere Rolle als früher. Manche haben aber kleinere Beeinträchtigungen, etwa Fütterstörungen als Säuglinge oder später motorische Schwierigkeiten oder eine Lese-Rechtschreibschwäche. Hier haben wir in Heidelberg Pflegekonzepte entwickelt, die diesen Beeinträchtigungen vorbeugen sollen. Indem wir die Bedürfnisse dieser Kinder erkennen und auf sie eingehen, wirkt das den Folgen entgegen. Dafür gibt es einige Evidenz. Dazu gehört, dass die Frühchen mit den Keimen der Eltern in Berührung kommen. Es wirkt sich positiv auf das Krankheitsgeschehen aus.
Und wie sieht es bei noch früher geborenen Kindern aus?
Bei Geburten in der 26. Woche sind die Überlebenschancen noch gut, aber das Risiko von Komplikationen ist größer. In der 24. und 25. Woche ist es eine offene Frage, ob das Leben glückt. Hier haben wir in Heidelberg die Grenzen der regulären Versorgung nach unten gesenkt. In Abwägung mit den Eltern versuchen wir unreife Frühchen standardmäßig ab der vollendeten 22. Woche zu retten. Wir halten es für gerechtfertigt, es zu probieren, und diese Frühchen nicht von vornherein palliativ zu begleiten.
Bei der Versorgung von Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von unter 1250 Gramm müssen ab dem kommenden Jahr 25 Kinder an einem Standort pro Jahr betreut werden, damit die Krankenhäuser diese Leistungen weiter erbringen dürfen. Wie viele dieser Frühchen versorgen Sie am Klinikum?
Wir betreuen etwa 65 im Jahr, nach den Lockdownjahren waren es weniger.
Und was bedeutet die Neuregelung für die Versorgung in Deutschland?
Die Frage ist vor allem, welche Anpassungen es braucht, damit die Versorgung insgesamt funktioniert – ich denke etwa an das Transportwesen oder an die Rahmenbedingungen. Dann wäre eine Möglichkeit, die Frühchen an einem Zentrum mit gebündelter Expertise zu versorgen und nach dieser kritischen Phase zurückzuverlegen, sodass die Kapazitäten an spezialisierten Zentren wieder frei werden. Das ist nun zu bedenken; positive Beispiele in diesem Bereich gibt es zum Beispiel aus der Region Ulm.