Die galoppierende Punkte-Inflation
Auch in seinem gerade erschienenen Weinführer bleibt der Heidelberger Weinexperte Gerhard Eichelmann seinem kritischen Ansatz treu

Gerhard Eichelmann (rechts) und die Winzer des Jahres (von links): Julian Huber (Rotwein), Stefan Vetter (Aufsteiger), Horst Sauer (Süßwein), Hermann Schmoranz und Markus Lundén (Weingut Georg Breuer, Weißwein), Volker Raumland (Sekt), Helmut Dönnhoff (Lebenswerk).
Von Manfred Maser
Heidelberg. Gerhard Eichelmann ist Weinkritiker. Darauf legt er großen Wert und dass er das tut, kommt nicht von ungefähr. Sein von ihm nach sich benannter "Eichelmann" ist ein Almanach des guten deutschen Weins und hat schon seit einiger Zeit institutionellen Status erreicht. 11.150 Weine werden in der gerade erschienenen Ausgabe 2019 mehr oder weniger ausführlich vorgestellt und nach dem international üblichen 100-Punkte-System bewertet. Kritisch bewertet. Was ganz bestimmt nicht heißen soll, dass die prüfende Beurteilung ihren Schwerpunkt in irgendwelchen Beanstandungen finden würde.
Allerdings auch nicht in verkaufsfördernden Lobeshymnen. Der "Eichelmann" ist, um es in einfacher Weinsprache auszudrücken: trocken. 80 bis 84 Punkte sind gut, 85 bis 89 sehr gut, 90 bis 94 hervorragend. 95 Punkte und mehr sind "großartig, Weltklasse" und entsprechend selten. Dass sich Gerhard Eichelmann in Zusammenarbeit mit seiner kleinen, kompetenten Jury an diese einfache Einteilung hält, verschafft ihm nicht nur Freunde. Die schnöde Welt der Werbung hat die konsumstimulierende Wirkung hoher Punktzahlen inzwischen auch für sich entdeckt und hat manchen Winzer im Auftrag des Handels mit Höchstbewertungen verwöhnt.
Von einer "galoppierenden Inflation der Punkte" spricht Eichelmann bei der Vorstellung der aktuellen Ausgabe und berichtet von einem um sich greifenden Bedürfnis nach vielen Punkten und Jubel-Texten. "Da machen wir nicht mit", sagt Eichelmann. "Wir schreiben für den Leser."
Das ist ihm hoch anzurechnen - 94 Punkte. Vielleicht - in seinem Sinne - auch nur 91. Dass eine Beurteilung des geschmacklich hoch komplexen Genussmittels "Wein" sowieso nie objektiv sein kann - nicht einer aus der Eichelmann'schen Degustations-Crew würde das in Abrede stellen. Man (es sind alles Männer) bewertet nach bestem Wissen und Gewissen. Der Leser (oder die Leserin) darf von gutem Gewissen und hohem Weinwissen ausgehen. Weder werden wertschöpfende Interessen vertreten, noch versucht sich da einer in selbstverwirklichender Wein-Poesie. Wie gesagt: trocken. Von "fruchtigem Feuerwerk" ist da genauso wenig die Rede wie von "erkennbaren Anklängen an Flieder und Lakritze". Es gibt keine edle Tröpfchen und keinen Tango von Tanninen. Auf 1312 Seiten finden sich bestenfalls florale Noten, keineswegs aber blumige Formulierungen und schon gar keine Stilblüten. Die Weine haben klare Frucht, sind reintönig, auch mal zupackend. Und mit 86 Punkten sehr gut.
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Die bei der Buch-Präsentation anwesenden Winzer mussten sich um Punktzahlen ohnehin keine Gedanken machen. Sie waren als Sieger des Jahres eingeladen - für ihre Rotwein-, Weißwein- oder Süßwein-Kollektion. Weinklassiker, Lebenswerk und Aufsteiger des Jahres sind weitere Kategorien der zur Buchvorstellung üblichen Urkundenverleihung, die in diesem Jahr erstmals um die beste Sektkollektion erweitert wurde.
Die ohne viel Brimborium durchgeführte Preisverleihung wäre jedes Jahr wert, für Wein-Enthusiasten live übertragen zu werden. Die Zuschauer würden von der nomenklatorischen Problematik der deutschen Sekt-Szene erfahren, von sich im Muschelkalk wohlfühlendem Chardonnay, von südafrikanisch-inspirierter nächtlicher Lese und der neuen Wertschätzung ehemals verpönter Höhenlagen.
Und persönliche Eingeständnisse hören, wie vom fränkischen Süßwein-Preisträger Horst Sauer: "Die Natur hat mich zur Geduld erzogen". Der zudem noch weiß: "Großer Wein entsteht im Kopf". Da hört man gerne zu, auch, wenn der für sein Lebenswerk ausgezeichnet Helmut Dönnhoff die ob des Klimawandels aufkommenden Ängste zu zerstreuen sucht: "Die guten Lagen sind immer noch die guten Lagen. Aber auch andere werden besser." Gerhard Eichelmann wird das kritisch begleiten.
Info: 11.150 Weine von 980 Weingütern aus den 13 deutschen Anbaugebieten hat das im Heidelberger Mondo-Verlag erscheinende Standardwerk bewertet. Zu den Winzern enthält das Buch die Adressen inklusive E-Mail und Homepage, Inhaber, Rebfläche, Besuchszeiten, eventuell Gutsausschank, dazu ein Kurzporträt der Erzeuger und ihres Programms.



