Uni Heidelberg

Forschungsprojekt beleuchtet die "dunkle Seite" der Demokratie

Untersuchung zum "Radikalenerlass" - Politisch ist der Umgang damit ein heißes Eisen

25.01.2019 UPDATE: 27.01.2019 06:00 Uhr 2 Minuten, 39 Sekunden

Anfang der 1970er waren die Auseinandersetzungen um Berufsverbote allgegenwärtig. Diese Aktivisten-Zeitung aus dem Juni 1973 thematisiert einen Fall in Weinheim, wo ein Religionslehrer entlassen worden war. Quelle: Materialien zur Analyse von Opposition/MAO

Von Sören S. Sgries

Heidelberg. Anfang der 1970er Jahre regierte in Bonn eine sozial-liberale Koalition. "Mehr Demokratie wagen", hatte SPD-Kanzler Willy Brandt als Parole ausgegeben. Und gleichzeitig litten viele junge Demokraten in genau dieser Zeit ganz besonders. Der Grund: der "Radikalenerlass", den Brandt vor 47 Jahren, am 28. Januar 1972, unterzeichnete. Millionen Menschen, die in den Staatsdienst wollten, wurden bis Anfang der 1990er überprüft. Über 1000 Menschen mit Berufsverboten belegt.

Es ist ein Kapitel der deutschen Geschichte, das die Betroffen umtreibt. Politisch jedoch hat man sich lange Zeit vor der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des "Radikalenerlasses" gedrückt. Erst in den letzten Jahren haben sich erste Bundesländer an die selbstkritische politische Aufarbeitung gewagt. Und auch in der historischen Forschung klaffen Lücken. Das soll sich ändern.

Das Heidelberger Historiker-Team (v.l.): Mirjam Schnorr, Yvonne Hilges, Prof. Edgar Wolfrum, Dr. Birgit Hofmann. Foto: Sgries

"Wir haben bisher die Geschichte der Bundesrepublik zu linear als Erfolgsgeschichte gesehen", sagt der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum. Allmählich gehe es aber darum, zu fragen: "Wo sind die dunklen Seiten der Demokratie?" Und da spiele das aktuelle Forschungsprojekt des Teams um den 58-Jährigen bestimmt hinein: "Verfassungsfeinde im Land? Baden-Württemberg, ’68 und der ,Radikalenerlass’ (1968-2018)".

Man frage sich schon, so Wolfrum, wie in der "liberalsten Epoche" der Bundesrepublik "solche Dinge" geschehen konnten. Er spricht vom "Widerspruch der Zeit", dass beispielsweise in Baden-Württemberg zwar mit Hans Filbinger ein Ministerpräsident mit NSDAP-Vergangenheit regieren durfte, aber an anderer Stelle junge Menschen verfolgt wurden, die nichts Illegales taten. Seine These: "Der Radikalenerlass war der innenpolitische Preis der Ostpolitik." Brandt "kaufte die Zustimmung der Konservativen". Wobei Wolfrum auch klarstellt: "Es ist wichtig für eine Demokratie, dass sie wehrhaft ist. Die Intention war vielleicht sogar gut."

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Hintergrund

Martin Hornung fordert politische Entschuldigung"

Martin Hornung (71, Foto: Rothe) legte im Sommer 1975 an der PH Heidelberg sein Examen für Grund- und Hauptschullehramt ab. Seinen

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Martin Hornung fordert politische Entschuldigung"

Martin Hornung (71, Foto: Rothe) legte im Sommer 1975 an der PH Heidelberg sein Examen für Grund- und Hauptschullehramt ab. Seinen Beruf durfte er aber nicht antreten - weil er sich öffentlich kritisch über den "Schiess-Erlass" durch den damaligen Innenminister Karl Schiess (CDU) geäußert hatte. Mit Berufsverbot belegt, lernte Hornung bei Grau-Bremse (Haldex) als Arbeiter an. Heute engagiert der Heidelberger sich in der Betroffeneninitiative "40 Jahre Radikalenerlass".

Herr Hornung, wie haben Sie reagiert, als Sie von der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Radikalenerlasses an der Uni Heidelberg erfahren haben?

Der erste Gedanke war: Wir freuen uns darüber, dass endlich, nach sechs Jahren, etwas in Gang kommt und die 2012 versprochene Aufarbeitung umgesetzt wird.

Zuletzt gab es einen "Runden Tisch" mit der damaligen grün-roten Landesregierung im Sommer 2015. Anfang 2016 wurde die Arbeit beendet. Seitdem herrschte Schweigen?

Ja. Und es war für uns völlig unverständlich. Nicht akzeptabel. Aber wir mussten es hinnehmen. Herr Kretschmann hat das entschieden und wollte vor der Wahl nichts mehr vom Runden Tisch wissen.

Welche Erwartungen haben Sie jetzt an die Historiker?

Wir hoffen, dass nicht nur vorhandenes Archivmaterial aufgearbeitet wird. Sondern dass auch Einzelheiten erforscht werden, die bisher unbekannt sind. Also: Welche Kommissionen damals getagt haben, wie die Entscheidungen über Einstellung oder Nichteinstellung getroffen wurden. Protokolle oder Forschungsergebnisse dazu sind uns bisher nicht bekannt. Wir wissen aber aus Notizen in Unterlagen von Betroffenen, dass es so ein Gremium gegeben haben muss. Wir hoffen, dass die Universität es schafft, an diese Protokolle heranzukommen.

Was erhoffen Sie sich als politisches Signal?

Wir erwarten von dem Forscherteam nicht, dass es sich für die Durchsetzung unserer weiteren Forderungen nach Entschuldigung, Rehabilitierung und Entschädigung bei Altersarmut starkmacht. Da wird uns das Projekt wohl nicht entscheidend weiterbringen. Die Universität entscheidet darüber ja nicht - sondern Landesregierung und Landtag müssen entsprechende Entscheidungen treffen.

Die Forschung läuft drei Jahre, bis 2021. Gedulden Sie sich diese Zeit?

Das können wir nicht, denn wir gedulden uns schon sehr lange. Wir sehen auch, dass da die Landtagswahl dazwischen liegt. Das ist Absicht, damit man nicht beim nächsten Wahlkampf in Konflikt kommt. Wir werden weiterhin unsere Forderungen vertreten. Wir sehen nicht ein, dass jetzt drei Jahre lang nichts passiert. Über ein Dutzend der Betroffenen ist bereits gestorben. Die Mehrheit von uns ist über 70 Jahre alt. Ein weiteres Hinauströsten ist nicht akzeptabel. Es war auch in Niedersachsen und Bremen möglich, Beschlüsse zur Rehabilitierung zu fassen. Das muss unabhängig von der Forschungstätigkeit geschehen.

Die Historiker haben nicht nur die Akten zur Verfügung - sondern auch Sie als Zeitzeugen. Ist Ihnen wichtig, dass Sie auch gehört werden?

Wir haben sofort, nachdem wir - zufällig! - von diesem Projekt erfahren haben, Prof. Wolfrum angeschrieben. Wir haben die Zusage, dass wir angehört werden - aber erst, wenn das Projekt etwas fortgeschritten ist. Unsere Initiativgruppe hat auch sehr viele Materialien. Vieles, was jetzt untersucht wird, ist durch unsere Forschungstätigkeit und eigene Unterlagen weitgehend bekannt. Deswegen hoffen wir, dass die Aufarbeitung eigentlich auch viel schneller gehen müsste.

Sie sagen, Sie hätten "zufällig" von dem Forschungsprojekt erfahren?

Richtig. Wir haben zufällig über die SPD davon erfahren, die eine Anfrage dazu im Landtag stellte. Wir finden es sehr befremdlich, dass man dieses Projekt gestartet hat, ohne die Betroffenen zu informieren. Die Landesregierung hätte uns informieren müssen.

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In Heidelberg sind die Historiker zunächst einmal mit der Sichtung der Akten in den Landesarchiven beschäftigt. Von "mehreren Hundert Akteneinheiten" allein im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart spricht Mirjam Schnorr. Dabei geht es um die "offiziellen" Dokumente, aber auch um zahlreiche Flugblätter, Demoaufrufe, Studentenzeitungen, Landtagsprotokolle oder Presseberichte, die auch alle in die Untersuchung einfließen sollen. "Logik reinbringen", nennt Schnorr ihre Aufgabe.

Mit 300.000 Überprüfungsvorgängen allein bis Ende der 70er-Jahre rechnet Schnorr, die irgendwie erfasst seien. Rund 80 Prozent davon betrafen Lehrer, 10 Prozent Hochschullehrer. Aber auch bei Bahn- oder Postbeamten wurde sehr genau hingeschaut. In rund 1300 Fällen habe es in Baden-Württemberg Verfahren gegeben. 200 bis 300 endgültige Entlassungen oder Berufsverbote soll es gegeben haben.

"Ich habe am Anfang auch gedacht, dass man in jeden Fall mal reinschauen kann. Das, glaube ich, wird nicht möglich sein", sagt Schnorr. Und so hat sie bislang nur einzelne Fälle "angelesen". "Da sind schon Beispiele dabei, die einem sauer aufstoßen." Beispielsweise der Mann, dem ein einfaches Heinrich-Heine-Zitat in seiner Heiratsanzeige zum Verhängnis wurde.

Gefördert wird das Projekt mit rund 250.000 Euro für drei Jahre vom Wissenschaftsministerium. Und von dort kam auch der Anstoß. Ministerin Theresia Bauer sei "sehr rege" gewesen, habe bei ihm dafür geworben, dass er ein entsprechendes Forschungsprojekt auf die Beine stelle, erzählt Wolfrum. Und auch in die eigene, grüne Landtagsfraktion habe sie sich dafür eingesetzt, heißt es. Wolfrum lobt das "historische Gespür" im Ministerium - zuletzt ließ man dort die NS-Vergangenheit der Landesministerien aufarbeiten.

Politisch interessant ist dieses Engagement Bauers, weil die Betroffenen im Land, organisiert in der Initiative "40 Jahre Radikalenerlass", sich eigentlich von der Landesregierung im Stich gelassen sehen. Zwar traf man sich im Sommer 2015 mit Vertretern der damaligen grün-roten Koalition an einem "Runden Tisch". Die erhoffte Rehabilitierung, eine Entschuldigung oder gar eine Entschädigung, blieb aber aus. Mit der Landtagswahl versiegten die Gesprächskanäle.

Könnte das Heidelberger Forschungsprojekt die Grundlage für eine Rehabilitierung liefern? "Das möchte ich nicht ausschließen", sagt der Grünen-Abgeordnete Uli Sckerl, der damals die Gespräche mit angestoßen hatte. "Ich setze darauf, dass wir mit den Ergebnissen das Thema noch mal aufgreifen können."

Seitens der Betroffenen hört man diese vage Auskunft nicht gern. "Ein weiteres Hinauströsten ist nicht akzeptabel", fordert Martin Hornung weiterhin schnelles Handeln - auch wenn er wenig Hoffnung hat, dass es dazu kommen wird.

Und wie stehen die Historiker zu diesem Konflikt? "Wir müssen jetzt erst mal die Grundlagen schaffen", sagt Wolfrum. "Sonst diskutieren wir nur wieder auf der politischen Ebene." Auf jeden Fall werde man zu gegebener Zeit auch auf die Betroffenen zugehen, sie als Zeitzeugen hören. Eine Rehabilitierung der Betroffenen könne aber nur die Politik leisten.

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