Der stille Krieg im Westjordanland
Nach dem Anschlag in Jerusalem fordert Israels Rechte die Annexion.

Von Mareike Enghusen, RNZ Tel Aviv
Tel Aviv. Fünf Männer, eine Frau: Die Gesichter der Opfer prangten am Dienstag auf den Titelseiten in Israel. Zwei palästinensische Attentäter hatten am Montag in Jerusalem auf Menschen geschossen, sechs getötet und Dutzende verletzt.
Gekommen waren sie aus dem Westjordanland. Der Vorfall erinnert daran, dass auch dort ein ständiger Kampf herrscht – leiser und weniger tödlich zwar als der Krieg im Gazastreifen, doch mit Eskalationspotenzial.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der am Montag den Anschlagsort besuchte, verknüpfte prompt die zwei Krisenherde: "Wir befinden uns im Krieg", sagte er, "in einem intensiven Krieg gegen den Terror an mehreren Fronten." Andere Politiker verbanden Äußerungen des Schocks mit politischen Botschaften.
"Die Terroristen, die heute Morgen zuschlugen, kamen aus den Gebieten der Palästinensischen Autonomiebehörde", betonte Israels Außenminister Gideon Saar und folgerte: Die Gründung eines Palästinenserstaates "hätte nur ein Ziel: die Auslöschung des Staates Israel".
Auch interessant
Die Verhinderung einer Zwei-Staaten-Lösung zählt zum Programm der israelischen Regierung aus rechtsextremen Parteien, seit dem Austritt zweier religiöser Parteien im Juli zur Minderheitsregierung geschrumpft.
Ende August etwa genehmigte sie den Bau einer Siedlung östlich von Jerusalem, die das Westjordanland in zwei Teile spalten würde. Das Projekt werde "die Idee eines palästinensischen Staates begraben", sagte Finanzminister Bezalel Smotrich, Vorsitzender der Siedlerpartei Religiöser Zionismus.
Auf einer Pressekonferenz vergangene Woche legte er nach: Israel solle "82 Prozent" des Westjordanlandes schlucken – "ein Maximum an Territorium und ein Minimum an (palästinensischer) Bevölkerung".
Viele in Israel halten die Pläne für reine Rhetorik, "bloß eine weitere Provokation gegenüber einer Welt, die sich schon jetzt von uns abwendet", wie Oppositionsführer Yair Lapid es ausdrückte.
Es gilt als unwahrscheinlich, dass Netanjahu ein solch radikales Vorhaben mittragen würde, auch wenn dieser kürzlich in einem Interview zum ersten Mal bekannte, er fühle sich der Vision eines "Groß-Israel" verbunden.
Doch selbst, wenn es zu einer formalen Annexion nicht so bald kommen sollte, beschreiben viele Beobachter Israels im Westjordanland als "schleichende Annektierung" – auch, weil radikale Siedler im Westjordanland augenscheinlich daran arbeiten, Palästinensern das Leben dort so schwer wie möglich zu machen.
Zwar ist Siedlergewalt dort schon seit Jahren ein Problem, doch Menschenrechtsorganisationen zufolge ist in den vergangenen Monaten die Zahl gewaltsamer Übergriffe deutlich gestiegen. Selbst das israelfreundliche Institute for Near East Policy, eine angesehene US-Denkfabrik, schreibt in einer Analyse: "Diese (teilweise koordinierte) Kombination aus Siedlungsausweitung ‚von oben‘ und Siedleraktionen ‚von unten‘ führt zu einer Zangenstrategie, die die Palästinenser zunehmend unter Druck setzt."
Auch die andere Seite greift zu Gewalt. Im Mai etwa erschoss ein Palästinenser eine hochschwangere Frau im nördlichen Westjordanland in ihrem Auto. Doch während palästinensische Täter sich vor israelischen Militärgerichten verantworten müssen, werden israelische Staatsbürger vor Zivilgerichte gestellt – und, wie Kritiker klagen, oft gar nicht belangt.
Was der Fall einer israelischen Übernahme des Gebiets, ob formal oder schleichend, für die dort lebenden Palästinenser bedeuten würde, lassen Befürworter der Pläne in der Regel offen. Würde Israel ihnen die Staatsbürgerschaft geben, verlöre es seine jüdische Mehrheit; andernfalls würden die Palästinenser zu Einwohnern ohne volle Rechte. In einem solchen Fall dürfte es Israel schwerfallen, Vorwürfe der Apartheid zu widerlegen.
Smotrich selbst erklärte: "Ich habe kein Interesse daran", sagte er jüngst über die Palästinenser, "sie das genießen zu lassen, was der Staat Israel zu bieten hat."