Nach dem Krieg ist vor dem Krieg
Dem Gazastreifen steht ein militärisches Besatzungsregime bevor. Dabei gilt ein vollständiger Sieg über die Hamas als Illusion.

Von Harald Raab
Tel Aviv. Die Apokalypse nimmt ihren Lauf. Israels Regierung hat seinen Streitkräften befohlen, Gaza-Stadt einzunehmen. Das Bombardement wird intensiver. Die Bodenoffensive ist wohl schon im Gang.
Da bisher nur ein Teil der rund eine Million Einwohner dem Aufruf der Armee gefolgt sind, sich in angeblich sichere "humanitäre Zonen" zu begeben, steht eine der blutigsten Phasen des Gaza-Krieges bevor.
Trotz aller aktuellen Härten in Gaza, gibt es auch eine Zeit danach. Aus Israels Sicht die beste Lösung: alle 2,2 Millionen Einwohner des weitgehend unbewohnbar gemachten Küstenstreifens umsiedeln.
Doch zum einen lässt sich dieser völkerrechtswidrige Transfer nicht in wenigen Wochen bewerkstelligen. Dazu bedarf es wenigstens zwei Jahre, wenn Israel durch massives internationales Eingreifen nicht ganz daran gehindert wird.
Es bleibt Israel gar nichts anderes übrig, als ein Besatzungsregime mit all seinen Verpflichtungen aus dem Kriegsvölkerrecht und mit widrigen Folgen zu installieren. Israel muss auf irgendeine Weise Verantwortung für die Zivilbevölkerung übernehmen. Das ist teuer und bindet viele militärische Kräfte – mit erheblichen Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Wirtschaft Israels.
Das Land hat sich jetzt schon mit zwei Jahren Krieg an vielen Fronten übernommen; Gaza, Libanon, Iran, Syrien und auch im Westjordanland. Das Personalreservoir ist erschöpft. Die 70 000 ultraorthodoxen jungen Männer, die eingezogen werden könnten, drücken sich weiterhin erfolgreich.
Die Moral in der Truppe, aber auch bei den Wehrpflichtigen und vor allem bei den Reservisten ist gesunken. Immer mehr Israelis sehen in der Fortsetzung des Krieges keinen Sinn mehr.
Wie muss man sich eine Herrschaft der israelischen Armee durch Besatzung im Gazastreifen vorstellen? Zuerst die finanzielle Seite: Zwei ehemalige Gouverneure der Bank of Israel, Karnit Flug und Jacob Frenkel, haben ausgerechnet, dass sich die direkten Besatzungskosten auf 30 Milliarden Schekel (8,9 Milliarden Dollar) pro Jahr belaufen werden: Davon zehn Milliarden Schekel für Gesundheitsversorgung, Wasser, Strom, Lebensmittel und Treibstoff.
Den größten Brocken machen die direkten Ausgaben für das Militär aus. Nicht berücksichtigt sind in dieser Kostenanalyse die wirtschaftlichen Auswirkungen durch die vielen Einberufungen von hoch spezialisierten Reservisten, die gerade der Hightech-Branche entzogen werden. Israel könne zudem von westlichen Staaten mit Wirtschaftssanktionen belegt werden.
Eine riesige und zudem kostenintensive Aufgabe für die Besatzungsmacht erwächst aus der Wiederherstellung von Wasser- und Stromversorgung. Wer soll die ganze Verwaltung und die vielen Reparaturteams organisieren? Das Militär wäre heillos überfordert.
Private Einrichtungen richten oft mehr Chaos an und scheitern an den gewaltigen Herausforderungen. Das sieht man bereits jetzt bei der von Israel und den USA initiierten Gaza Humanitarian Foundation, die bei der Verteilung von Lebensmitteln einen schlechten Job macht.
Gegen Israels permanente Okkupation des Westjordanlandes haben einige westliche Regierungen Sanktionen verhängt. Sie bewirken nichts. Bei der Besatzung des Gazastreifens wird der Vorwurf der Apartheid unüberhörbar sein – mit wirtschaftlich spürbaren Reaktionen: Investitionsstopp, Verschärftes Waffenembargo, Boykott von Forschungszusammenarbeit.
Hart werden auch die Reaktionen der arabischen Staaten Israel treffen. Verträge, die Länder wie Ägypten, Jordanien oder die Arabischen Emirate mit Israel unterzeichnet haben, stehen auf dem Spiel. Die Besatzung des Gazastreifens und die Annexion des Westjordanlandes würden wohl zum Abbruch der Beziehungen führen.
Israel hat ein Muster für sein Besatzungsregime im Gazastreifen: das ist die Struktur und Praxis der Beherrschung des Westjordanlandes – aber ohne die vom Oslo-Prozess aufgezwungene Palästinensische Autonomiebehörde. Und mit einigen auf Gaza angepassten Sicherheitskonzepten. So soll es eine Art mobile und dennoch vollständige Besatzung des Gazastreifens geben.
Unter permanenter Besatzung durch stationierte Truppen sollen nur stehen: Pufferzonen, Sicherheitsgrenzen und strategische Korridore. Gleichzeitig sollen die militärischen Einheiten in kürzester Zeit an jedem Ort des Gazastreifens eingesetzt werden können.
Völlige Kontrolle will Israel über alle Palästinenser haben, die im Land leben, die aber auch hinein oder heraus wollen. Die Palästinenser müssen mit eingeschränkten Freiheitsrechten auskommen. Ihre Wirtschaft ist vollkommen abhängig von Israel. Es scheint, als sollten sie keinesfalls auch nur die geringste Chance auf einen eigenen Staat haben.
Wie Deutschland bei solchen Aussichten sein Versprechen auf unverbrüchliche Solidarität mit Israel aufrecht erhalten will, bleibt die unbeantwortete Frage all derer, die hierzulande die Augen vor den tatsächlichen Absichten der israelischen Regierung verschließen.