Appell für sozialen Wohnraum

So schnell kann man heute die Wohnung verlieren

Laut Sarah Lotties von der Wohnungslosenhilfe liegt das vor allem am angespannten deutschen Mietmark.

10.09.2025 UPDATE: 10.09.2025 20:00 Uhr 3 Minuten, 7 Sekunden
Wohnungslos werden zunehmend auch immer mehr Erwerbstätige und Familien. Expertin Lotties von der Arbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe fordert zur Lösung des Problems eine deutliche Steigerung des sozialen Wohnungsbaus. Foto: dpa
Interview
Interview
Sarah Lotties
Fachreferentin bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe

Von Tim Müller

Berlin. Sarah Lotties ist Fachreferentin bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe.

Frau Lotties, laut Statistischem Bundesamt ist die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland in den letzten Jahren stark gestiegen. Woran liegt das?

Zum einen wurde erst im Januar 2022 eine einheitliche Erfassung von wohnungslosen Menschen in Deutschland eingeführt, die sich über die letzten Jahre in der Praxis erst noch bewähren musste. Daher die teils starken Unterschiede.

Zum anderen flüchteten in Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine viele Menschen nach Deutschland, die in den vergangenen Jahr leider auch oftmals keine Wohnung fanden. Es kam also auch zu einem tatsächlichen Anstieg.

Wie viele Ukrainer in Deutschland sind denn wohnungslos?

Die Statistiken zeigen, dass rund 30 Prozent der in Deutschland untergebrachten wohnungslosen Menschen aus der Ukraine stammen, eine bemerkenswert hohe Zahl. Zur Einordnung: In den vergangenen drei Jahren ist die Zahl der wohnungslosen Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit nur um etwa fünf Prozent gestiegen.

Apropos: Welche Gruppen sind besonders von Wohnungslosigkeit betroffen?

Schaut man schlicht auf Menge ist die Sache eindeutig: Männer, alleinstehend, zwischen 30 und 50. Das ist aber nur ein statistisches Klischee – wie eben jeder Durchschnitt. In der Realität gibt es bestimmte Gruppen, die besonders gefährdet sind, wohnungslos zu werden.

Das sind Menschen mit Migrationshintergrund, mit psychischen Erkrankungen, generell junge Menschen, queere Menschen, Familien – hier ganz besonders Alleinerziehende – und Menschen mit geringem Einkommen. Viele Gruppen weisen Schnittmengen auf. So haben Alleinerziehende oft auch ein geringes Einkommen.

... aber alle haben gemeinsam, dass sie als Mieter unbeliebt sind, oder?

Ja, genau. Sie werden oft auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert und haben es damit schwerer eine Wohnung zu finden als beispielsweise das Paar mittleren Alters mit gesichertem Einkommen.

Inwieweit sind auch Personen aus der gesellschaftlichen Mitte betroffen?

Anzunehmen, Wohnungslosigkeit sei nur ein Problem von Menschen in prekären Beschäftigungen – oder jenen ohne Arbeit – ist ein Fehlschluss. Ich drücke es mal zugespitzt aus: Wir beide sind näher an der Wohnungslosigkeit als an einem Dasein als Millionär.

In Wohnungslosigkeit zu geraten, kann sehr schnell passieren. In schwierigen Wohnungsmärkten wie hier in Berlin reicht da die Eigenbedarfskündigung oder der Kauf der Immobilie durch einen profitorientierten Wohnungskonzern mit anschließender Luxussanierung.

Und was passiert dann?

Vielleicht schauen wir auf das Beispiel einer Familie, die ihre Wohnung in einer Großstadt verloren hat. Eine vier- oder fünfköpfige Familie hat ganz andere Ansprüche an ihre Umgebung als ein Singlehaushalt. Das erschwert die Suche. Eine Familie braucht mehr Fläche, sie braucht Kinderbetreuung, Schulen, Freizeitmöglichkeiten, die Nähe zu den Arbeitsplätzen der Eltern, einen besseren Nahverkehr.

Gleichzeitig sind sie keine beliebten Mieter und haben es daher auf dem Wohnungsmarkt schwer. Einfach aufs Land auszuweichen, ist meist wegen der eben genannten Umstände auch keine Option. Zumal die Speckgürtel um die Städte meist so teuer sind wie die Stadt selbst.

Dann bleibt nur der Einzug bei Oma?

Das klingt jetzt auf Anhieb nicht so prekär. Aber die sogenannte verdeckte Wohnungslosigkeit – also wenn wohnungslose Menschen bei Verwandten oder Bekannten unterkommen – kann zu einem echten Problem werden. Beispielsweise wenn die alleinerziehende Mutter mit Kind bei einem gewalttätigen Nachbarn oder Partner unterkommt. Generell: Eine Unterbringung bei Bekannten ist auch ungesicherter Wohnraum.

Und was ist mit dem Gang in eine Einrichtung für wohnungslose Menschen?

Tatsächlich sind 51 Prozent aller sogenannten untergebrachten Wohnungslosen in Deutschland in Haushalten mit Familien. Das ist eine unglaubliche Zahl.

Und die Einrichtung werden vermutlich nicht familiengerecht sein ...

Ganz oft sind – vor allem die kommunalen – Unterbringungen überhaupt nicht für Familien gedacht worden. Man plante sie damals vor Jahrzehnten eben für das Klischee von alleinstehenden Mann. Für Kinder fehlen Rückzugsorte und Spielmöglichkeiten. Zudem sollten diese Notunterkünfte wirklich nur für eine kurze Zeit aushelfen. Mittlerweile erleben wir allerdings, dass gerade Familie teils mehrere Jahre dort bleiben, weil der Wohnungsmarkt in Deutschland so angespannt ist.

Was müsste denn getan werden, um die Situation zu entschärfen?

Es braucht ein ganzes Paket von Maßnahmen. Zum einen braucht Deutschland Wohnraum, vor allem sozialen Wohnraum. Es braucht eine dauerhafte Sozialbindung für diese Wohnungen, ohne Übergang in den regulären Wohnmarkt. Zum anderen brauchen wir präventive Maßnahmen. Beispielsweise sollte auch darüber nachgedacht werden, dass der Staat kurzfristige Mietschulden von bestimmten Gruppen übernimmt.

Das wäre deutlich kostengünstiger als die derzeitige Praxis, bei der Menschen zunächst aus Wohnungen geräumt, in Einrichtungen untergebracht, betreut und anschließend erneut auf Wohnungssuche geschickt werden. Es bräuchte zudem eine Überarbeitung des Mietrechts, gerade bei der Schonfristzahlung und der Mietpreisbremse. Und zuletzt müssen die Notunterkünftige dringend modernisiert werden.

Wie blicken Sie auf den Aktionsplan der Bundesregierung?

In den letzten Jahren hat sich wohnungspolitisch einiges bewegt: Der Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit ist auch grundsätzlich ein wichtiger Schritt. Gleichzeitig bleiben viele Punkte im Plan noch vage, die Maßnahmen sind oft zu zögerlich und greifen an den entscheidenden Stellen zu kurz. Besonders für Menschen, die akut von Wohnungsnot betroffen sind, braucht es daher gezieltere Maßnahmen, langfristige strukturelle Lösungen und einen stärkeren Fokus auf soziale Gerechtigkeit, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken

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