Hintergrund - Fragen und Antworten

22.02.2019 UPDATE: 22.02.2019 17:43 Uhr 2 Minuten, 48 Sekunden

Im vierten Jahr des Dieselskandals sind die vielen Tausend Gerichtsentscheidungen kaum noch zu überblicken. Was fehlt, sind Grundsatz-Urteile. Die Autokonzerne sind sehr geschickt darin, Klägern das Aufgeben schmackhaft zu machen.

Aber diesmal hat VW die Rechnung ohne den Bundesgerichtshof (BGH) gemacht: Die Karlsruher Richter meldeten sich am Freitag überraschend von sich aus zu Wort - und stärken Autokäufern damit den Rücken. (Az. VIII ZR 225/17)

Was genau ist passiert?

Für den 27. Februar ist eigentlich eine Verhandlung in einem Dieselfall angesetzt. Das Urteil wird mit Spannung erwartet, denn es ist die erste Klage, die es in die höchste Instanz geschafft hat. Auf den letzten Metern mehren sich die Anzeichen, dass hinter den Kulissen an einem Vergleich gearbeitet wird. Und tatsächlich: Am Freitag muss der BGH den Termin absagen - der Autokäufer hat seine Revision zurückgezogen. Ganz ähnlich war es auch schon mit einer Verhandlung im Januar gelaufen. Aber diesmal nehmen die Richter das nicht kommentarlos hin. Sie veröffentlichen einen Hinweisbeschluss.

Was bedeutet das?

Der Senat hält für alle einsehbar fest, was seine "vorläufige Einschätzung" ist. Ein solcher Beschluss ist noch kein Urteil. Es ist aber kaum vorstellbar, dass die Richter derart in die Offensive gehen, ohne sich ihrer Sache zu einhundert Prozent sicher zu sein. Weil der BGH in strittigen Rechtsfragen das letzte Wort hat, ist zu erwarten, dass sich alle anderen Zivilgerichte daran orientieren.

In welchen Punkten bezieht der BGH Stellung?

Zum einen halten die Richter fest, dass ein Auto mit illegaler Abgastechnik einen Sachmangel aufweisen dürfte. Das haben zwar auch schon andere Gerichte so gesehen. Die Klarstellung aus Karlsruhe ist aber wichtig, weil ein festgestellter Sachmangel für Autokäufer die Grundvoraussetzung ist, um Ansprüche gegen den Händler durchzusetzen. Der Senat äußert sich außerdem dazu, wann der Verkäufer einen betroffenen Diesel austauschen muss. Darum ging es in dem Fall.

Warum hat der Dieselfahrer geklagt?

Der Mann hatte 2015 bei einem Händler im oberfränkischen Bayreuth einen neuen VW Tiguan 2.0 TDI gekauft. Als wenige Monate später der Abgasskandal auffliegt, verlangt er vom Verkäufer ein anderes Auto ohne das Problem - vergeblich. Das Recht auf Ersatzlieferung haben Neuwagenkäufer in den ersten zwei Jahren. Sie können grundsätzlich wählen, ob der Händler den Mangel beheben oder das Auto austauschen soll. Aber die Gerichte weisen die Klage ab: Der Ersatz sei unmöglich, weil der Tiguan seit 2016 in zweiter Generation gebaut werde. Dieses Auto habe mehr PS, könne schneller fahren und sei ein paar Zentimeter länger und breiter - also nicht gleichwertig.

Was bedeutet der BGH-Beschluss für Dieselkläger?

Die Richter meinen, dass der Modellwechsel keine Rolle spielt. Zumindest mache er den Austausch nicht unmöglich. Damit können sich Verkäufer vor Gericht - wie in solchen Streitfällen generell - nur noch darauf berufen, dass die Kosten für die Nachlieferung unverhältnismäßig seien. Für Kläger ist das wichtig, weil laut ADAC regelmäßig alle Autos derselben Baureihe mit der illegalen Abgastechnik ausgestattet sind, es also gar kein mangelfreies Auto gibt. Nach Einschätzung des Autofahrerclubs hilft der BGH mit seinen Feststellungen allen Klägern, deren Prozesse gegen den Händler noch laufen. Der Volkswagen-Konzern ist der Ansicht, dass Rückschlüsse auf die Erfolgsaussichten dieser Klagen noch nicht möglich sind.

Wie geht es jetzt weiter?

Immer noch sind sehr viele Fragen ungeklärt. Die Einschätzung des BGH betrifft zunächst nur Käufer von Neuwagen, die mit ihrem Händler um Ersatzlieferung streiten. Andere Betroffene wollen den Kaufpreis mindern oder vom Kaufvertrag zurücktreten - oder sie haben VW selbst auf Schadenersatz verklagt. Beim BGH ist bereits die nächste Nichtzulassungsbeschwerde anhängig. Erst diese Woche hat außerdem der Rechtsdienstleister Myright angekündigt, nach einer Niederlage in Braunschweig in Revision zu gehen. In diesem Fall will ein Kläger Schadenersatz von VW als Hersteller. Allein gegen VW sind nach Konzernangaben derzeit gut 50.000 Klagen anhängig, etwa 2000 von ihnen richten sich gegen Händler. Die Musterfeststellungsklage der Verbraucherzentralen, der sich schon mehr als 400.000 Autokäufer angeschlossen haben, wird am Ende ebenfalls in Karlsruhe landen.

Wo beschäftigt der Dieselskandal sonst noch die Justiz?

Knapp 1700 Anleger und Investoren wollen von Volkswagen rund 9 Milliarden Euro Schadenersatz. Das Musterverfahren am Oberlandesgericht Braunschweig dreht sich um die Frage, ob die Märkte rechtzeitig über den Abgas-Betrug informiert wurden. Außerdem ermittelt die Staatsanwaltschaft Braunschweig wegen verschiedener Vorwürfe gegen 52 Beschuldigte, darunter auch Ex-VW-Konzernchef Martin Winterkorn, Vorstandschef Herbert Diess und Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch. Ob es zur Anklage kommt, ist noch unklar.