"Unsere Schicksalsjahre": Zeitzeugen erinnern sich an Schrecken der letzten Kriegsjahre
Zeitzeugen berichten im RNZ-Buch von ihren Erlebnissen in den Jahren 1944 und 1945 - Rudi Bechtel und Heinz Lingg lasen in der Buchhandlung Dörner daraus vor

Lesung aus dem Buch "Unsere Schicksalsjahre" in der Buchhandlung Dörner, von links: Dr. Lars Castellucci, Heinz Lingg, Dr. Anton Ottmann und Rudi Bechtel. Foto: Pfeifer
Wiesloch. (pen) Fast 70 Jahre lang haben sie geschwiegen, nichts berichtet von Not, Leid, Tod und Krieg. Sie haben die Erinnerungen in sich begraben. Erst als RNZ-Redakteur Stefan Hagen anfing, Zeitzeugen für seine Serie über die Jahre 1944/45 in der Region zu suchen, begannen sie zu reden. "Zum ersten Mal haben wir gespürt, da hört uns jemand zu, da interessiert sich jemand für unser Leben", berichten die beiden Zeitzeugen Rudi Bechtel und Heinz Lingg, die im Rahmen einer Lesung aus dem Buch "Unsere Schicksalsjahre 1944/45 ihre ganz persönlichen Geschichten aus den Kriegsjahren in der Buchhandlung Dörner vorstellten. Aus Anlass des Jahrestags der Reichspogromnacht am 9. November 1938 hatte der SPD-Bundestagsabgeordnete Lars Castellucci gemeinsam mit den beiden Kirchengemeinden und der Stolperstein-Initiative Wiesloch zu dieser Veranstaltung eingeladen.
Das Buch "Unsere Schicksalsjahre 1944/45" basiert auf der in der Rhein-Neckar-Zeitung veröffentlichten Serie. Im Juli 2012 erschien der Artikel "Beim Metzger gab es Supp fer umme" von Christa Huillier - die Geschichte war quasi der Startschuss für die erfolgreiche Serie "Meine Stadt 1945". Nachdem über 90 Folgen veröffentlicht waren, wurde die RNZ-Reihe als Buch herausgegeben. Da die erste Auflage innerhalb von wenigen Tagen ausverkauft war, ist jetzt eine zweite Auflage erschienen. Aus ihr lasen die beiden Zeitzeugen Rudi Bechtel und Heinz Lingg in der Buchhandlung Dörner.
Im März 1945 war Rudi Bechtel aus Sinsheim mit seinem Großvater gerade im Feld, um die Gerste auszusäen, als sein Großvater aufgeregt rief: "Achtung, die Rotschwänze kommen". Es waren jedoch keine Vögel, sondern amerikanische Jagdbomber, die hinter dem Steinsberg bei Sinsheim plötzlich zum Vorschein kamen. Wegen ihres orange-rot gefärbten Leitwerks wurden die Flugzeuge Rotschwänze genannt. "Wir wussten, dass sie auf alles schießen, was sich bewegt", berichtete Rudi Bechtel. Deshalb suchten er und sein Großvater sofort Schutz unter einem Baum. Obwohl dies kein gutes Versteck war, wie er augenzwinkernd zugab, denn im März trug der Baum natürlich noch keine Blätter. Auch er erlebte in seinem Heimatort Bombennächte auf Kartoffelsäcken im Keller, Granaten, die in Dächer einschlugen, und Panzer, die durch die Straßen fuhren.
Heinz Lingg aus Leimen wurde fast zur gleichen Zeit wie sein Vater in den Krieg eingezogen. Im letzten Kriegsjahr wurde der damals 15-Jährige gemeinsam mit 50 anderen Jugendlichen in einem Wehrerkundungslager zum militärischen Nachwuchs ausgebildet. Mit erbeuteten französischen Uniformen schickte man sie im März 1945 zu Fuß nach Süddeutschland, obwohl "am Horizont schon der Feuerschein des brennenden Ludwigshafen" zu sehen war. Am Ostersamstag 1945, als sie gerade bei Schwäbisch Hall waren, erfuhren sie, dass die Amerikaner bereits Heidelberg besetzt hatten.
Die Betreuer verließen die Gruppe und von diesem Zeitpunkt an waren die Jugendlichen auf sich allein gestellt. Gemeinsam mit einem Freund trat Heinz Lingg auf einem kaputten Fahrrad den Rückweg in die Heimat an. Unterwegs wurde ihnen auf einem Bauernhof Essen und Unterkunft angeboten. In Leimen hatte sich die Nachricht, dass der Junge auf dem Weg nach Hause sei, schnell herumgesprochen und so wurde er von einer ganzen Schar Kinder freudig empfangen.
Heinz Lingg überraschte die Zuhörer an diesem Abend mit weiteren Erzählungen, die nicht mehr in das Buch gepasst hatten. Auch in der anschließenden Diskussion mit dem Publikum (Moderation Lars Castellucci und Anton Ottmann) kamen viele persönliche Erlebnisse zur Sprache, in denen sich die Ängste, Sorgen und Sehnsüchte der Kriegsgeneration widerspiegelten. Durch die Zeitzeugenberichte bekommen die Schrecken der letzten Kriegsjahre ein Gesicht. Diejenigen unter den Zuhörern, die nach Kriegsende geboren wurden, können nun erahnen, was ihre Eltern und Großeltern erleben und erleiden mussten.
Info: Stefan Hagen, Jörg Kreutz und Berno Müller (Hrsg.): "Unsere Schicksalsjahre 1944/45", Eigenverlag des Rhein-Neckar-Kreises, 188 Seiten, 22,80 Euro, ISBN 978-3-932102-31-8. Das Buch ist in allen Geschäftsstellen der RNZ und im Fachhandel erhältlich.