Klappstuhl-Krach empört bundesweit, Ordnungsdienst lenkt ein (Update)
KOD soll nur noch eingreifen, wenn Gefahr in Verzug ist. Rettungswege müssen frei bleiben. Anwohner hatten sich beschwert.

Von Sarah Hinney
Heidelberg. Der Heidelberger Klappstuhl-Krach sorgt inzwischen bundesweit für Empörung. Überregionale Zeitungen und Fernsehsender melden sich bei Anwohnern in der Pfaffengasse. Eine Online-Petition fordert, dass Kurt Baust (104) weiter mit seinem Klappstuhl auf der Gasse sitzen darf: Schon 936 Menschen haben unterschrieben.
Die wichtigste Nachricht vorweg: Der 104-jährige Altstädter darf seinen Klappstuhl-Platz tatsächlich wieder einnehmen. Ordnungsbürgermeister Wolfgang Erichson (Grüne) erklärt auf RNZ-Nachfrage am Donnerstag: "Ich habe den Kommunalen Ordnungsdienst am Mittwoch gebeten, nur noch bei Vorliegen von Gefahr in Verzug – unter anderem bei blockierten Rettungswegen – einzuschreiten."
Bausts Klappstuhl ist nur halb so breit wie die parkenden Autos in der Pfaffengasse und dürfte daher also nun nicht mehr beanstandet werden. Laut Erichson seien es Anwohner aus der Pfaffengasse selbst, die sich bei seinen Mitarbeitern wiederholt über Ruhestörungen und zu wenig Restfahrbahnbreite in den schmalen Altstadt-Gassen beschwert hätten.
Oberbürgermeister Eckart Würzner zeigt sich über die Klappstuhl-Diskussion vor allem überrascht. "Bisher war das noch nie Thema", sagte er am Donnerstag gegenüber der RNZ. Sein Eindruck sei, dass der Ordnungsdienst seine Arbeit immer gut gemacht habe, eine politisch neue Linie gebe es nicht. Wenn ein Gehweg nicht mehr begehbar sei, müssten die Mitarbeiter aktiv werden. Selbstverständlich sei die Aufgabe des KOD, das umzusetzen, was rechtlich gelte. "Aber dort, wo es unkritisch ist, muss man auch nicht unbedingt aktiv werden." Würzner sagte auch: "Wir haben aber eine Diskussion, die bezieht sich auf das Gehwegparken. Da müssen wir über Stellschrauben sprechen – und nicht bei Klappstühlen."
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Unter anderem mit "Gehwegparken" hatte allerdings ein Pressesprecher der Stadt das Durchgreifen des Ordnungsdienstes bei Klappstühlen vor zwei Wochen gerechtfertigt. Damals verbot der Ordnungsdienst das Sitzen in der Krämergasse (die RNZ berichtete). Bei Autos habe man über Jahrzehnte hinweg eine gewisse Toleranz an den Tag gelegt, die Menschen hätten sich daran gewöhnt, dass es geduldet werde, sagte der Stadtsprecher damals. Diese Erfahrung sei auch ein Grund dafür, warum man bei Stühlen auf dem Gehweg einschreiten müsse – damit sich die Menschen daran nicht ebenfalls gewöhnten. "Das ist nicht die Position der Stadt", sagte Oberbürgermeister Würzner jetzt über die Aussage seines Mitarbeiters auf RNZ-Nachfrage. "Es gibt Nachholbedarf beim Gehwegparken. Aber wir fangen jetzt nicht mit den Stühlen an, wir fangen mit dem Parken an".
Auch die Fraktionschefs der Parteien im Gemeinderat haben Stellung bezogen. Jan Gradel (CDU) sagte: "Wir haben das Thema ja schon seit drei Wochen und ich finde das unmöglich. Die Stadt sollte sich um Gehwege kümmern, die wirklich ein Problem sind." Natürlich sei es schwierig, jemanden bei der Stadtverwaltung dazu aufzufordern, gegen geltendes Recht zu verstoßen. Die beste Lösung sei stets: Wo kein Kläger, da kein Richter. "Im Gemeinderat müssen wir darüber nachdenken, ob wir uns Gedanken über eine Klappstuhl-Blumen-Satzung machen könnten. Das muss man juristisch prüfen", so Gradel.
Larissa Winter-Horn (Die Heidelberger) sieht es pragmatisch: "Rechtlich gesehen ist es eine Sondernutzung, insofern handelt die Verwaltung gesetzeskonform. Man kann im Einzelfall abwägen, muss aber auch den Gleichbehandlungsgrundsatz beachten. Nichtsdestotrotz wundert uns das harte Durchgreifen des KOD in diesem Bereich, während schwerwiegendere Vergehen ungeahndet bleiben, was oft damit begründet wird, dass der KOD nicht zu jederzeit überall sein kann." Grünen-Fraktionschef Derek Cofie-Nunoo sagt: "Nach meiner Information ist der KOD bislang immer nur bei Anwohnerbeschwerden eingeschritten. Wir als Fraktion fordern mehr Fingerspitzengefühl und eine Ermöglichungsperspektive für Klappstühle. Es muss möglich sein, mit Nachbarn und Freunden an warmen Abenden draußen zu sitzen. Der KOD sollte eher darauf achten, dass die Gehwege frei sind von Autos oder Rollern."
Hannes Wendling äußert im Namen der FDP-Fraktion: "Die Mitarbeiter des KOD setzen gültiges Recht um. Hierzu sind sie verpflichtet. Die zugrunde liegenden Vorschriften sind jedoch kleinkariert. Die in den Gässchen aufgebauten und schnell zur Seite geräumten Tische und Stühle, gehören zum Bild der Altstadt. Daher beantragt die FDP die Einräumung einer Sondernutzungserlaubnis für Private auf formlosen Antrag."
Die SPD zeigt sich "irritiert über die Verbotspolitik". Fraktionsvorsitzende Anke Schuster sagt: "Wir haben in der ganzen Coronazeit versucht, den Restaurants die Außenbewirtschaftung zu vergrößern. Wir sollten in diesem und im nächsten Jahr den Bürgern so viel wie möglich ermöglichen. Und dazu passt das gar nicht. Die Frage ist: Was für eine Kultur will ich in der Stadt haben? Wir als SPD-Fraktion wollen eine Ermöglichungskultur und wir erwarten, das die Verwaltung ebenso agiert. Warum nehmen wir es für selbstverständlich, dass die Autos ihren Platz haben können und die Menschen nicht?"
Update: Donnerstag, 15. Juli 2021, 17.25 Uhr
104-Jähriger darf nicht mehr vorm Haus in der Altstadt sitzen
Anwohner in der Pfaffengasse ärgern sich über Ordnungsdienst - Jahrzehntelang waren Tischchen und Stuhl kein Problem
Von Sarah Hinney
Heidelberg. Der Klappstuhl-Krach geht in die nächste Runde. Ende Juni hatten sich Anwohner in der Krämergasse über den Kommunalen Ordnungsdienst (KOD) geärgert, der ihnen das Sitzen vor der Haustür untersagte – jetzt hat es die Anwohner der Pfaffengasse erwischt. Gleich zwei Tage hintereinander schaute der KOD hier vorbei und scheuchte die Anwohner von der Gasse. Und wie schon beim ersten Mal verteidigt die Stadt gegenüber der RNZ wieder den KOD.
Die Argumente blieben gleich: Man wolle kein "Biergarten-Chaos" in der Stadt etablieren, es dürfe grundsätzlich nichts die Gehwege blockieren, Rettungswege müssen frei bleiben und die Menschen sollen sich nicht daran gewöhnen, dass das Sitzen auf den Gehwegen geduldet wird.
Nun kann bei einer Handvoll Rentner, die freitagabends ein Glas Wein vor der Haustür trinken, von "Biergarten-Chaos" in der Pfaffengasse keine Rede sein, einen Gehweg gibt es dort gar nicht und das Sitzen vor der Haustür hat jahrzehntelang niemand gestört. Das berichten die Anwohner der RNZ vor Ort. Zum ersten Mal kam der KOD an einem Freitagabend gegen 21 Uhr. "Da saßen wir hier zu viert", berichtet Peter Baust. Selbst die Personalien seien aufgenommen worden. Am Folgetag saß er allein vor der Tür und prompt schaute der KOD wieder vorbei und untersagte ihm das.
Sein Vater, Kurt Baust, ist 104 Jahre alt, im August wird er 105. Er ist der älteste Einwohner Heidelbergs und sitzt ebenfalls gern vorm Haus in der Pfaffengasse. Dass er das nun nicht mehr darf, ist ihm unbegreiflich. Seit seinem 17. Lebensjahr wohnt Kurt Baust "im schönsten Haus der Altstadt", wie es Eveline Mrosek nennt. Auch sie ist Anwohnerin der schmalen Altstadtgasse, in der sich etwas weiter oben das Geburtshaus von Friedrich Ebert befindet. Tatsächlich ist das Gebäude eine Augenweide: Blumenkästen mit wunderschönen Kakteen schmücken die Fassade, Sandsteinkübel rechts und links der schmucken Haustür sind üppig bepflanzt.
Zwischen jene Kübel platziert Peter Baust normalerweise das schmale Tischchen samt Stuhl. Schon nach dem Krieg habe seine Mutter hier gesessen und Kartoffeln geschält, berichtet Peter Baust kopfschüttelnd und hilft seinem Vater, kurz für das RNZ-Foto Platz zu nehmen, danach werden Tisch und Stuhl rasch wieder nach drinnen geräumt. Minuten später kommt eine Gästeführerin mit einer Gruppe Touristen vorbei. "Oh, müsst ihr jetzt drinnen sitzen?", fragt sie enttäuscht. Mrosek nickt. "Die Gästeführer kommen hier eigentlich auf jeder Tour vorbei. Weil es so schön ist", sagt sie.
Für die Anwohnerinnen und Anwohner, die an diesem Nachmittag zum RNZ-Gespräch zusammenkommen, ist das Verhalten von Stadt und KOD blanker Hohn. Seit über 20 Jahren stehen die Blumenkübel vor dem Haus. "Damals war das von der Stadt explizit gewollt, damit keine Autos dort parken", berichtet Peter Baust. Nun hat er Sorge, dass sich die Stadt das anders überlegen könnte, er bald auch die Kübel wegräumen muss. Das wäre die logische Konsequenz, denn sein kleines Tischchen ist kein Stück breiter.
Die Argumentation der Stadt, dass die Rettungswege frei bleiben müssten, ist ihm ein Rätsel. Schließlich sind die parkenden Autos fast doppelt so breit wie das idyllische Ensemble. Selbst die Müllabfuhr kommt problemlos durch – sie wird allenfalls behindert, weil gerade wieder jemand einen E-Roller achtlos in der Gasse abgestellt hat. An jenem Nachmittag sind es gleich zwei. Am meisten ärgern sich die Anwohner aber über das – wie sie finden – Messen mit zweierlei Maß von Stadt und KOD.
Bis 5 Uhr in der Frühe leben sie an den Wochenenden mit Gegröle und Geschrei. Ihre Hauseingänge werden als Toiletten missbraucht, sie entfernen Erbrochenes und fegen Massen von Scherben weg. "Obwohl wir auch für die Straßenreinigung bezahlen", wirft Peter Baust ein. All das werde von der Stadt geduldet und auch die Anwohner ertragen es zähneknirschend – es bleibt ihnen schließlich nichts anderes übrig.
"Seit Jahren leiden wir unter Lärm, Schmutz, Krawall und schlaflosen Nächten. Anstatt aber die Täter zu bestrafen, bestraft die Stadt neuerdings die Opfer. Diejenigen also, die ohnehin schon unter der Situation leiden und nichts zum Krawallverhalten der Feierlustigen beitragen", sagt Mrosek. Ihrer Meinung nach sei das "hilfloser Aktionismus und ein Ablenkungsmanöver, um den Eindruck zu erwecken, man tue etwas".
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