Artenschützer Heiko Werning über seltene Tiere
"Jeder, der zu Hause ein Aquarium hat, kann sich überlegen: Mach ich da Goldfische rein oder möchte ich vielleicht den Mangarahara-Buntbarsch pflegen?"

Von Jan Draeger
Berlin. Haben Sie schon mal vom Baumhummer oder vom Mangarahara-Buntbarsch gehört? Oder vom Waldrapp? Na, Sie vielleicht nicht – aber Heiko Werning! Er ist nämlich von Tieren mit seltsamen Namen mehr als begeistert – ja, gesteht er im Vorfeld des Interviews, er habe sich sogar hoffnungslos in sie verliebt. Der Berliner ist Reptilien-Experte und Artenschützer. Seit Jahren setzt er sich für das Überleben bedrohter Arten ein. Besonders für solche, die weniger bekannt sind. In seinem vor kurzem erschienenen Buch schildert er ihr ungewöhnliches Schicksal. Mit unserem Autor Jan Draeger sprach Heiko Werning über mörderische Hauskatzen, die brutale Partnerwahl des weiblichen Darwinfroschs und darüber, wie Menschen Zugvögeln beibringen, wieder in den Süden zu fliegen.
Herr Werning, wie ist Ihre Leidenschaft für seltene Tiere entstanden?
Als kleines Kind bin ich mit dem Kescher losgezogen und habe Molche aus dem Tümpel beim Bauern um die Ecke gefischt. Zum Entsetzen meiner Eltern habe ich die mit nach Hause gebracht. Dann wollte ich Reptilien halten und habe mir zu Grundschulzeiten ein Terrarium angeschafft. Das musste aber in der Garage stehen, weil meine Mutter so komische Tiere nicht im Haus haben wollte.
Konnten Sie sie überzeugen?
Ja. Ich habe die Tiere sozusagen nach und nach reingekämpft. Während meiner Gymnasialzeit durfte ich Echsen in einem Kellerraum halten. Diese Leidenschaft kann ich mir nicht erklären, es hat mich einfach gepackt. Ich fand immer Tiere jenseits des Mainstreams interessanter als die, die alle kannten. Wenn man sich ihre Lebensweise und auch das Schicksal, das sie in den letzten Jahrzehnten durchleiden mussten, anschaut, stecken dahinter zum Teil atemberaubende Storys.
Nun haben Sie Ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Sie sind Amphibien- und Reptilien-Experte, setzen sich für bedrohte Tierarten ein. Kriechen denn durch Ihre Wohnung in Berlin ein paar seltene Exemplare?
Leider inzwischen deutlich weniger. Ich habe das aus Zeitgründen sehr reduziert. Aber es sind immer noch ein paar Tiere da – unter anderem pflege ich drei Chuckwallas, eine Wüstenleguan-Art, Korallenfinger-Laubfrösche und Mallorca-Geburtshelferkröten.

Da sind wir schon bei den seltsamen Namen. Wo kommt denn der von der Mallorca-Geburtshelferkröte her?
Das hat mit der ulkigen Fortpflanzungsstrategie zu tun. Bei der Paarung klammert sich das Männchen an den Lenden des Weibchens fest und stimuliert es zur Abgabe von Eiern. Diese flutschen in sogenannten Laichschnüren aus ihr heraus. Das Männchen wickelt sie sich um die Hinterbeine und das sieht so aus, als ziehe es diese Laichschnüre aus dem Weibchen heraus. Daher kommt der Name Geburtshelferkröte. Das Männchen trägt die Eier bis zum Schlupf der Kaulquappen mit sich herum. Lange Zeit wusste man nicht, ob die Geburtshelferkröte auf der Baleareninsel überhaupt noch lebt. Es gab nur fossile Funde aus der Eiszeit. Dann hat man sie in den 80er-Jahren plötzlich in einem Gebirge im Norden von Mallorca, in der Serra de Tramuntana, wiederentdeckt.
Warum war sie so lange verschwunden?
Das lag an anderen Arten, die Menschen – wahrscheinlich schon in der Antike – nach Mallorca eingeschleppt hatten. Wie den Iberischen Wasserfrosch oder die Würfelnatter. Beide sind vom europäischen Festland rübergeschafft worden oder als blinde Passagiere mitgekommen. Das weiß man nicht so genau. Diese beiden Tiere haben die Mallorca-Geburtshelferkröten einfach aufgefressen. In den Schluchten des Gebirges fanden ein paar von ihnen noch einen Rückzugsraum, weil es den Invasoren dort schlicht und einfach zu kalt war.
Was passierte mit der Mallorca-Geburtshelferkröte nach ihrer Wiederentdeckung?
Es gab sofort eine Rettungsaktion. Der Zoo in Jersey hat einige Exemplare mitgenommen und dann auch auf andere Zoos verteilt. Dort wurden sie erfolgreich nachgezüchtet und wieder ausgewildert.
Der Mensch hat sie also gerettet. Aber ist er nicht auch Schuld, dass so viele Tierarten zu verschwinden drohen?
Der Mensch ist dabei schon der Hauptverantwortliche. Durch Landwirtschaft und Städtebau wird immer mehr Lebensraum dieser Tiere zerstört. Ein anderes, gar nicht so seltenes, Problem ist das Verschleppen von Tierarten. Hauskatzen gehören zu den effektivsten Artenausrottungsmaschinen. Auf ganz viele Inseln haben Menschen Hauskatzen mitgebracht, die dann eine Art nach der anderen umgelegt haben. Wie zum Beispiel den Baumhummer, der weitgehend ausgerottet wurde, weil Katzen, Ratten und andere Tiere auf seine Heimatinsel in der Südsee verfrachtet wurden.

Wie sieht denn ein Baumhummer aus?
Das sind ganz eindrucksvolle Insekten. Sie ähneln sehr dicken Ästen und können bis zu zwölf Zentimeter lang werden. Sie sind sehr gut gepanzert, sehen dadurch eben ein bisschen wie ein Hummer aus, nur dass sie eigentlich Stabschrecken sind, die in den Bäumen herumkriechen.
Wie bewerten Sie die politischen Anstrengungen, die biologische Vielfalt zu schützen?
Ich glaube, das Ausmaß der Biodiversitätskrise ist in der Politik und auch in der breiten Öffentlichkeit überhaupt noch nicht verstanden worden. Der Weltbiodiversitätsrat der Vereinten Nationen hat prognostiziert, dass in absehbarer Zeit eine Million Tier- und Pflanzenarten auszusterben droht. Und wir sind schon mittendrin: Von vielen Arten sind nur noch klägliche Reste übrig. Was den Lebensraumschutz angeht, wird zu wenig getan – die Abholzung von Wäldern geht ja unvermindert weiter. Und als Bonusproblem gibt es noch den Klimawandel. Bei einer Erhöhung um 1,5 Grad drohen 90 Prozent der Korallenriffe abzusterben. Und die sind einer der großen Biodiversitäts-Hotspots, dementsprechend werden mit den Riffen auch sehr viele Arten aussterben.
Warum ist es so wichtig, dass es viele unterschiedliche Tiere gibt?
Einmal ist das eine ethische Frage, Arten haben doch schon einen Wert an sich. Mit jeder einzelnen Art, die fehlt, wird die Welt ärmer. Das zu zeigen, ist ein Kernanliegen unseres Buches. Aber es gibt auch ein ganz eigennütziges Motiv für die Menschheit. Diese genetische Vielfalt brauchen wir für alles Mögliche. Viele wichtige Erfindungen im weiteren Sinne, chemische Substanzen, Pharmazeutika, basieren ja auf natürlichen Organismen. Der Schimmelpilz, den sicher niemand auf dem Schirm hatte, hat uns das Penicillin gebracht. Oder der Pátzcuaro-Querzahnmolch. Ein im Wasser lebender dicker Molch, der in einem einzigen See im mexikanischen Hochland lebt. Ein katholisches Nonnenkloster am Ufer dieses Sees nutzt ihn für die Herstellung von Hustensaft.
Wie funktioniert denn das?
In dem Fall wollen wir mal das Geheimnis hinter den Klostermauern lassen. Irgendwie verarbeiten sie den Molch zu Hustensaft. Die Nonnen haben aber festgestellt, dass die Molche immer seltener wurden, weil der See leider massiv verschmutzt wird. Deshalb haben sie begonnen, Pátzcuaro-Querzahnmolche in ihrem Kloster zu züchten. Einmal aus geschäftlichem Interesse, gleichzeitig aber auch aus dem Grund, die Schöpfung zu bewahren. Damit haben sie wahrscheinlich die Art gerettet.
Einige der Tiere, von denen Sie in Ihrem Buch erzählen, waren früher einmal stark vertreten auf der Erde …
Wie die Wandertaube. Das war mal der häufigste Vogel der Welt. Er ist aber im 19. Jahrhundert in den USA ausgerottet worden. Was Kettenreaktionen auslöste, so wurde beispielsweise der Amerikanische Totengräberkäfer gleich mit erledigt.
Warum musste er sterben?
Diese Käfer suchen sich eine frische Leiche und verbuddeln sie dann. Deshalb auch der Name: Totengräberkäfer. Und dann legen sie ihre Eier daneben, und der Nachwuchs der Käfer ernährt sich von dem Kadaver. Wandertauben waren eine wichtige Nahrungsgrundlage für sie. Die aber wegbrach, als die Tauben ausgerottet waren. Ähnlich erging es dem Schwarzfußiltis. Er ernährte sich von Präriehunden, die aber den Farmern im Weg waren, als sie ihre Rinder auf die Prärie schickten. Sie brachen dort nämlich mit ihren Hufen in den Bau des Präriehundes ein und starben an den Fußverletzungen. Was den Farmern große wirtschaftliche Verluste brachte. Deshalb haben sie die Präriehunde abgeschossen, vergiftet oder in ihrem Bau vergast – und damit ausgerottet. Und den Schwarzfußiltis gleich mit.

Sie sind Mitinitiator von "Citizen Conservation", einem Projekt, bei dem Bürger zu Artenschützern werden – was wird dort genau gemacht?
Der Ansatz von "Citizen Conservation" ist, dass man auch zu Hause bedrohte Arten halten und züchten kann und damit die Arbeit der Zoos unterstützt.
Wie kann man sich das Zusammenleben mit den Tieren vorstellen?
Jeder, der zu Hause ein Aquarium hat, kann sich überlegen: Mach ich da Goldfische rein oder möchte ich vielleicht den Mangarahara-Buntbarsch pflegen? Der Goldfisch braucht vielleicht die Mühe nicht, weil er nicht gefährdet ist. Den Mangarahara-Buntbarsch dagegen gibt es nur noch in ein paar Aquarien und jedes Aquarium mehr, in dem einer rumschwimmt, hilft dieser Art, nicht auszusterben. Natürlich muss man sich da ein bisschen auskennen. Obwohl so ein Mangarahara-Buntbarsch auch nicht viel schwieriger zu pflegen ist als ein Goldfisch.
Er ist aber eher hässlich, schreiben Sie …
(lacht) Das ist ein bisschen ironisch geschrieben. Der Name assoziiert dass er bunt ist, aber der Mangarahara ist eher die graue Maus unter den Buntbarschen. Nichtsdestotrotz hat er auch ein Recht zu leben. Mit Hilfe von "Citizen Conservation" soll er dauerhaft in Aquarien nachgezüchtet werden.
Wann werden die Tiere ausgewildert?
Das ist nicht unsere Aufgabe. Wir sorgen dafür, dass von möglichst vielen Arten überhaupt noch Tiere da sind. Auswilderungen sind komplexe Projekte, die wissenschaftlich begleitet werden müssen, damit kein Unfug geschieht. Dass es funktioniert, zeigt sich am Beispiel des Waldrapps. Das war früher mal ein Brutvogel in Deutschland. Ein bezauberndes Kerlchen mit einer Punk-Frisur. Leider schmeckt er wohl auch ganz gut, denn er wurde tatsächlich buchstäblich aufgefressen. Nur noch in Zoos konnte man den Waldrapp wieder heranzüchten. Doch seit einiger Zeit leben wieder einige von ihnen im Alpenraum.
Haben solche Tiere mit der Freiheit Probleme?
Ja. Waldrappe sind Zugvögel und wie es Zugvögel eben so machen, brüten sie in Deutschland und ziehen im Winter in den Süden. Das Problem bei den Waldrappen ist, dass sie nicht wissen, wohin. Sie hätten das eigentlich von ihren Eltern lernen müssen. Da es aber keine ziehenden Waldrappen mehr gab, gab es auch niemanden mehr, der ihnen das hätte beibringen können. Deshalb haben Tierpfleger sie mit Leichtflugzeugen – so eine Art Dreirad mit Flügeln – unterstützt. Damit sind sie den Vögeln voraus in den Süden bis zu den Überwinterungsplätzen geflogen. Eine völlig irre Aktion.
Und warum sind Zoos so wichtig?
Auch da wäre es eine Aufgabe der Politik, Zoos besser finanziell auszustatten. Sie sind aber leider immer noch sehr auf wirtschaftlichen Betrieb getrimmt. Man übersieht dabei, dass sie eine ganz wichtige Funktion haben: die hoheitliche Aufgabe des Artenschutzes. Das können im Prinzip nur Zoos in Zusammenarbeit mit Privathaltern oder Hobbyzüchtern.
Bei den knapp 50 Tieren, die in Ihrem Buch vorkommen, fördern Sie auch Interessantes über deren Geschlechterverhältnis zutage. Nicht selten kümmern sich die Männer um den Nachwuchs …
Besonders nett fand ich das beim Darwinfrosch. Das Männchen verschluckt die Kaulquappen, wenn sie aus den Eiern schlüpfen und packt sie in seinen Kehlsack. Das heißt, diese Kaulquappen bleiben im Hals des Männchen, bis sie sich umgewandelt haben. Und werden dann in einer Art Superschluckauf auf die Welt gespuckt. Da ist die gesamte Aufzucht und Brutpflegearbeit bei den Männchen.
Und wo bleiben die Frauen?
Bevor sie sich paaren, gibt es einen sehr lustigen Test. Erst mal kommt es zu dem üblichen Balzverhalten: Die Männchen quaken und locken damit die Weibchen an. Dann aber tritt das Weibchen – was ein bisschen brutal aussieht– beherzt und mit voller Kraft gegen das Männchen, sodass es in hohem Bogen wegfliegt.
Warum machen sie das?
Über die Flugeigenschaften wollen sie das Gewicht des Männchens ermitteln. Denn: Je schwerer das Männchen ist, desto besser ist es geeignet, die anstrengende Brutarbeit später zu leisten. Und diejenigen Männchen, die besonders schwer sind, weil sie bei diesem Test nicht so weit fliegen, werden dann ausgesucht, um sich mit den Weibchen zu paaren.
Die Schwersten sind die Attraktivsten?
Genau. Das finde ich sehr sympathisch.
Wenn Sie sich in ein Tier verwandeln könnten – welches wäre es?
Ziemlich attraktiv finde ich die Lebensweise des Vancouver-Murmeltiers. Sehr große Teile des Jahres verschläft es einfach. Dabei geht es ihm allerbestens.
BIOGRAFIE
Name: Heiko Werning
Geboren am 24. August 1970 in Münster.
Werdegang: In Berlin studiert Werning Technischen Umweltschutz. Parallel beginnt er als Redakteur für zoologische Literatur zu arbeiten. Mit einer Reihe von Büchern macht er dem Berliner Stadtteil Wedding, in dem er zu Hause ist, eine Liebeserklärung. Er ist auch Autor von Fachbüchern über Reptilien. Mit seinen Texten tritt er auf Berliner Lesebühnen auf.
Engagement: Werning hat das Projekt "Citizen Conservation", dessen Ziel es ist, das Artensterben zu stoppen, mitgegründet. Mittlerweile wird es von rund hundert Haltern unterstützt. Auf der Seite https:// citizen-conservation.org kann man auch den Kreaturen-Podcast hören, mit dem Werning und andere Autoren wie Ulrike Sterblich und Kathrin Passig durch unterhaltsame Geschichten auf die Lage vieler Tierarten aufmerksam machen wollen. Vor kurzem ist auch das entsprechende Buch dazu erschienen: "Von Okapi, Scharnierschildkröte und Schnilch. Ein prekäres Bestiarium" (Galiani Berlin, 240 Seiten, 22 Euro). Alle Autorenhonorare kommen "Citizen Conservation" zugute. Auch der Verlag unterstützt das Projekt mit einem halben Euro je verkauftem Exemplar.
Privat: Heiko Werning lebt in Berlin.