Liebe unter Starkstrom

Jaqueline ist verliebt in Oberleitungen

Sie liebt mit jeder Zelle ihres Körpers, ist verliebt über beide Ohren, allerdings nicht in einen Menschen, sondern in Oberleitungen. Jaqueline ist objektophil.

03.03.2021 UPDATE: 07.03.2021 06:00 Uhr 5 Minuten, 9 Sekunden
Oberleitung
Der Stromabnehmer einer E-Lok. Foto: Roland Weihrauch/dpa

Von Anjoulih Pawelka

Jaqueline, ist eine reflektierte Frau. Wenn sie am Telefon spricht, erklärt sie immer wieder, was in ihrem Inneren vorgeht, hinterfragt, erklärt vieles, kann sich in die Lage anderer Menschen hineinversetzen. Jaqueline heißt nicht Jaqueline, es ist der Name, den sie sich selbst ausgesucht hat, weil er so schön klingt. Unter diesem Namen möchte sie ihre Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die nicht alltäglich ist, die ihr so viel Glück bereitet und gleichzeitig aber auch so viel Schmerz. Es ist eine Geschichte von bedingungsloser Liebe mit Hindernissen. Denn Jaqueline ist objektophil, sie liebt Oberleitungen.

"Ich bin so verliebt", sagt Jaqueline bei unserem ersten Telefonat, und dabei wird ihre Stimme ein bisschen überschwänglich. Man meint, hören zu können, wie sie grinst. Dann kommt sie ein wenig ins Schwärmen. So, wie es Liebende eben tun. Und auch bei unserem zweiten Gespräch gibt es Situationen, bei denen die Liebe zu ihren Oberleitungen ganz deutlich wird. Dann sagt sie Dinge wie Glück, Verliebtheit und Dankbarkeit.

Mit elf Jahren hat sie das erste Mal dieses Gefühl gespürt. "Daran kann ich mich noch ganz genau erinnern", sagt sie und beginnt ihre Geschichte zu erzählen: Sie war per Nachtzug auf dem Weg zu ihrer Oma in die Großstadt. In den Morgenstunden ging die Sonne am Himmel auf, Jaqueline schaute zum Fenster hinaus, sah eine Oberleitung und wurde von diesem Gefühl übermannt, das ihren ganzen Körper durchdrang. Einordnen konnte sie es damals noch nicht. Auch, dass das alles mit den Oberleitungen zusammenhängt war ihr nicht klar. Erst über 20 Jahre später sollte sie für dieses Gefühl, für ihre Empfindungen den Namen kennen: Objektophilie, die Liebe zu Gegenständen.

Damals im Zug habe sie die Oberleitungen gar nicht bewusst wahrgenommen. Und auch über das Gefühl nicht weiter nachgedacht. Doch um Jaqueline war es geschehen. Zurück in der Heimat, in dem sie aufgewachsen ist, war von nun an ihr einziges Thema Züge. "Ich musste immer an Oberleitungen denken", sagt sie. Darüber zu sprechen, traute sie sich nicht, zu groß war die Scham. Aber auch das Gefühl der Traurigkeit begleitete sie in dieser Zeit. Gab es in ihrem Ort doch keine dieser Drahtleitungen aus Metall. "Ich habe sehr gelitten."

Also verbrachte Jaqueline ihre Tage in Büchereien. Wälzte in Zugmagazinen, bekam dabei Schweißausbrüche und Herzklopfen. Während sie stundenlang E-Loks anschmachtete, hörte sie Lieder von Schlager-Sänger Nino de Angelo.

Im Heim verstand unterdessen niemand, warum sie dauernd von Zügen und Oberleitungen sprach. Mittlerweile war Jaqueline 19 Jahre alt, war zwischenzeitlich mit einem ihrer Betreuer 60 Kilometer weit gefahren, um sich Oberleitungen anzuschauen, erfuhr, wie es ist, wenn das Herz beim Abschied beinahe zerbricht, und fing eine Ausbildung zur Bäckereifachverkäuferin an. Auch dort "nervte" sie ihre Kollegen. "Wenn der Mensch sich richtig verliebt, will man sich austauschen", erklärt Jaqueline mit eindringlicher Stimme.

Erst als sie therapeutisch betreut wurde, besserte sich ihr Zustand. Plötzlich hatte sie jemanden, mit dem sie reden konnte. "Eigentlich ging es nur um Oberleitung hier und Oberleitung da", erzählt sie in munterem Ton. Noch heute ist sie ihrer Therapeutin dankbar für das offene Ohr. Sie war es auch, die den Kontakt zu Oberleitungstechnikern herstellte und es Jaqueline somit ermöglichte, bei deren Arbeit zuzuschauen. "Das war für mich unglaublich."

Männer, die an Oberleitungen arbeiten, sind für Jaqueline Halbgötter. Foto: Getty

Die Männer, die täglich an den Oberleitungen arbeiten durften, waren für Jaqueline Halbgötter. Zum Abschied fragte sie einen der Arbeiter, ob sie einen Oblerleitungs-Draht haben dürfe. Tatsächlich schickte er ihr einen nagelneuen nach Hause. "Ich kann gar nicht erzählen, was das für ein Gefühl war." Sie trug den Draht von nun an immer bei sich, habe sich dadurch aufgewerteter gefühlt, sei ausgeglichener gewesen. Bis heute empfindet Jaqueline so viel Glück und Freude bei den Oberleitungen. Sie sagt, diese hätten sie gerettet und damals vor einem Suizid bewahrt. Es sei eine "innere Flucht" gewesen.

Jaqueline hat zu jeder Oberleitung eine ganz eigene Beziehung. "Ich verliebe mich jede Minute neu." Dabei geht es nicht nur um die "Eros-Liebe" wie sie es nennt, die zwischen zwei Menschen stattfindet. Das Sexuelle spiele keine übergeordnete Rolle. Trotzdem kuschelt sie gerne mit ihrem Ausleger. 2,7 Meter lang ist dieser, dank Aluminiumrohr nur ein Zentner schwer, und hängt mit vier Dübeln an ihrer Wand direkt über dem Bett. "Den himmel ich jeden Morgen an", sagt sie in ihrer unbekümmerten, freundlichen Art. "Den anzufassen, ist ein richtig tolles Gefühl." Oberleitungen geben ihr etwas, das Menschen ihr nicht geben können. "Es findet in mir drinnen emotional statt", erklärt sie, und stellt aber auch gleich klar, dass ihr vollkommen bewusst sei, dass ihr Oberleitungen zum Beispiel in Notlagen nicht helfen können. Das würden Menschen aber teilweise auch nicht. Immer wieder versichert sie sich in Gesprächen mit einem Facharzt, dass sie gesund ist, denn Objektophilie gilt nicht als Krankheit.

Trotzdem ist es auch die "Mutter-Liebe", die sie bei Oberleitungen findet. Sie geben ihr ein Gefühl, nicht alleine zu sein, eine Art Geborgenheit. Jaqueline sorgt sich um ihre Liebsten, will, dass es ihnen gut geht. Daher kann sie es auch nicht mit ansehen, wenn Techniker grob mit den Oberleitungen umgehen. Während sie dies alles erzählt, läuft nebenher ein Führerstandfilm. Dabei ist in der Fahrerkabine der Lok eine Kamera angebracht. Jaqueline fährt also gerade virtuell durch die Schweiz und kann die Oberleitungen betrachten. "Von der Erscheinung ist sie die schönste auf der Welt", schwärmt Jaqueline. Und fügt mit einem herzlichen Lachen hinzu, dass sie die ganz schön heiß findet. Daher würde sie auch gerne mal mit einem Zug in die Schweiz oder nach Polen fahren. Immerhin seien die Oberleitungen überall ein wenig anders. Ihr größter Traum ist es allerdings, einmal bei einer großen Inspektion dabei zu sein.

So schön diese Liebe ist, und diesen Eindruck erweckt Jaqueline in den Gesprächen durchaus, dann kichert sie ein wenig, klingt glücklich und zufrieden, so schwierig ist diese Liebe auch. Es sei eine große Belastung, wenn man von der Gesellschaft abgestempelt und ausgeschlossen werde. Daher hält sie sich oft zurück und erzählt selten von ihrer Liebe. "Man kann sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebt." Gerne würde sie die Masten der Oberleitungen umarmen. Doch das geht nicht, die Angst vor gesellschaftlicher Ablehnung ist einfach zu groß. Also hat sie Möglichkeiten gefunden, ihren Oberleitungen nah zu sein, ohne dass es auffällt. Da versucht sie beispielsweise ihr Fahrrad anzuschließen, obwohl sie weiß, dass der Mast viel zu dick ist. Doch so ist sie ihm nahe. Lehnt sich manchmal an ihn, was ebenfalls wenig Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das Thema Gefahr erwähnt sie in dem Gespräch kein einziges Mal.

Um mit ihrer Situation besser umgehen zu können, hilft es ihr, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Das kann sie im Internet-Forum "Objektophilia". Und auch ihre Techniker tragen dazu bei, dass Jaqueline ihrer Liebe ab und zu nahe sein kann. Jede Woche trifft sie sich mit ihnen, will genau wissen, was die Männer gemacht haben, und ob es den Oberleitungen gut geht. Ein- bis zweimal im Jahr nehmen sie Jaqueline mit zur Inspektion. Manchmal verspürt sie aber auch Eifersucht, weil die Techniker der Oberleitung körperlich nahe sein können. Doch: "Für die ist das ein toter Gegenstand." Sie allerdings empfindet in Bezug zu ihrer Liebe, die komplette Palette der Gefühle, so, wie es andere Menschen in Beziehungen auch fühlen.

Mit einem Menschen zusammen zu sein, das kann sie sich nicht vorstellen. Auf die Frage antwortet Jaqueline voller Entrüstung und wie aus der Pistole geschossen. Den menschlichen Körper findet die 38-Jährige nicht attraktiv. Sexszenen in Filmen turnen sie ab. Trotzdem hat sie Freunde, umarmt diese auch und führt ein ganz normales Leben mit geregeltem Einkommen.

Wenn sie es sich aussuchen könnte, würde sie sich immer wieder dafür entscheiden, objektophil zu sein. "Ich würde auf keinen Fall tauschen wollen", sagt sie und fügt hinzu: "Das wahre Glück kommt von innen." Wie weit ihre Liebe geht, zeigt sich auch an ihrem Nachnamen. Den hat sie vor einigen Jahren beim Standesamt ändern lassen. Nun heißt sie wie ein Stromabnehmer. "Das war für mich wie eine Heirat."

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