Heidelberger Stückemarkt

So spannend waren die Gründerjahre des Theaterfestivals

Zur abgesagten Veranstaltung: Erinnerungen an den Anfang

21.04.2020 UPDATE: 24.04.2020 06:00 Uhr 6 Minuten, 42 Sekunden

Am Puls der Zeit: Schon beim 1. Heidelberger Stückemarkt 1984 mit dem Motto „Weibsstücke“ standen die Frauen im Zentrum des Festivals. Foto: Programmhefte

Von Heribert Vogt

Heidelberg. Widerstreitende Gefühle: Für mich fallen jetzt die negativsten und die positivsten Emotionen beim Heidelberger Stückemarkt zusammen, den ich seit seiner zweiten Ausgabe 1985 begleitet habe. Das waren bis jetzt 35 Jahrgänge in Folge. Am schlimmsten ist der Ausfall des 37. Stückemarkts wegen der Corona-Pandemie. Am schönsten war die 7. Festivalausgabe 1990, die nun ihr 30-Jahr-Jubiläum begeht: Nach dem Fall der Mauer 1989 erlebte ich die theatrale Wiedervereinigung mit zahlreichen DDR-Bühnen im Heidelberger Theater.

München war bereits in Heidelberg präsent, als ich 1984 von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität ins Feuilleton der Rhein-Neckar-Zeitung kam. Dort erzählten mir die Kollegen von dem neuen Theaterfestival namens Heidelberger Stückemarkt, das sechs Wochen zuvor im Juni erstmals über die Bühne gegangen war. Mein erster Stückemarkt war dann die zweite Ausgabe des Festivals 1985. Und dort traf ich damals das geliebte München wieder.

Denn es waren 1985 drei Gastspiele von der Isar zu sehen: Das Internationale Theaterfestival München zeigte "Tropfen auf heiße Steine" von Rainer Werner Fassbinder, das Bayerische Staats-schauspiel "Gust" von Herbert Achternbusch und die Münchner Kammerspiele "Kalldewey Farce" von Botho Strauß. Und schon vor meinem Beginn in der RNZ waren die Münchner Kammerspiele mit Marty Martins Drama "Gertrude Stein Gertrude Stein Gertrude Stein" beim Start des Heidelberger Stückemarkts 1984 vertreten gewesen. Dieses Spitzenhaus zählt bis heute zu den am meisten beim Stückemarkt vertretenen Gastbühnen.

Ich begegnete in Heidelberg aber nicht nur den Theatern aus München wieder, sondern auch – und das war in der Folge noch bedeutsamer – meinem dortigen Germanistikstudium mit dem Schwerpunkt DDR-Literatur. Aber warum wählte ich in der bayerischen Metropole mit ih-rer üppigen Lebensart ausgerech-net die karge DDR als Arbeitsgebiet? Zum einen gab es dort etwas Neues zu entdecken: Spä-testens seit der spektakulären Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976, über die ich eine Seminararbeit schrieb, machte ein immer stärker werdender Schwall literarischer Stimmen auf den zweiten deutschen Staat neugierig.

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Zum anderen war die DDR damals auch im wirklichen Leben ein exotisches Land. Und dies bestätigte sich etwa 1980 eindrucksvoll, als ich eine Autofahrt in das literarische Dresden unternahm. Dort begegnete ich einem Deutschland, das mir zuvor völlig fremd gewesen war. Als Sechsjähriger hatte ich im heimischen Philips-Schwarzweiß-Fernseher die sche-menhaft im Gedächtnis gebliebenen Bilder des Mauerbaus 1961 gesehen. Aber an das Deutschland davor habe ich keine bewusste Erinnerung. Meine Kindheit und Jugend in der alten Bundesrepublik verliefen weitgehend ohne die DDR.

Ein Schlüsselerlebnis war für mich jedoch die Entdeckung von Bertolt Brecht. In Ostwestfalen sah ich noch als Schüler im Theater sein Stück "Herr Puntila und sein Knecht Matti", von dem ich begeistert war. Und die Faszination für Brecht hält bis heute an. Aber warum hatte sich der legendäre Dramatiker nach dem Zweiten Weltkrieg für die DDR entschieden? Diese Frage führte mich ganz wesentlich zur DDR-Literatur, die später in den Fokus meines Studiums rückte.

An der Universität in München erwuchs seit den Siebzigerjahren eine genaue Beobachtung des innerdeutschen Verhältnisses. Bereits 1978 sah ich in den Münchner Kammerspielen "Germania Tod in Berlin" des DDR-Dramatikers Heiner Müller, der Brecht nahe stand. Auch Heiner Müller begegnete mir gleich bei meinem ersten Heidelberger Stückemarkt 1985 wieder: Denn das Alzenauer Ensemble war dort mit seinem Werk "Der Auftrag" zu Gast. Damit begann beim Stückemarkt die Präsenz der DDR-Literatur, die noch hohe Wellen schlagen sollte.

Ein diesbezüglicher Meilenstein war der Stückemarkt 1987. Damals reiste mit dem Mecklenburgischen Staats-theater Schwerin die erste DDR-Bühne an und bildete mit vier Aufführungen den Schwerpunkt. Dabei handelte es sich um "Schmitten" von Volker Braun, "Guten Morgen, du Schöne" von Maxie Wander, "Die Troerinnen" nach Jean-Paul Sartre sowie "Jacke wie Hose" von Manfred Karge. Und eröffnet wurde der Jahrgang 1987 von den Städtischen Bühnen Osnabrück mit Heiner Müllers Stück "Germania Tod in Berlin", das ich ehedem schon in München gesehen hatte.

Dann folgte die Endphase des osteuropäischen Kommunismus, 1988 und 1989 fehlte die DDR-Dramatik beim Stückemarkt. Allein Ernst-Jürgen Dreyers Schauspiel "Die Nacht vor der Fahrt nach Bukarest", aufgeführt von den Städtischen Bühnen Münster, kündete wenige Monate vor dem Mauerfall am Beispiel Rumäniens von den politischen Umwälzungen. Ansonsten dominierten noch einmal die in der alten Bundesrepublik angesagten Autoren wie Peter Handke, Thomas Bernhard, Herbert Achternbusch oder Franz-Xaver Kroetz.

Peter Stoltzenberg, Gründer des Stückemarkts. Foto: Hentschel

Der Gründungsintendant des Heidelberger Stückemarkts, Peter Stoltzenberg, hatte wie alle seine Nachfolger einen Berliner Hintergrund. Wie er selbst wurden auch die späteren Intendanten Günther Beelitz, Peter Spuhler und Holger Schultze in der heutigen deutschen Hauptstadt geboren; und der gebürtige Meißener Volkmar Clauß war Intendant der Staatlichen Schauspielbühnen in Berlin gewesen. Stoltzenberg kam also aus der damals geteilten Stadt, wo es seit 1978 den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens gab. Dessen Vorbildfunktion für die Namenswahl Heidelberger Stückemarkt liegt auf der Hand.

Das Festival am Neckar wurde in der alten Bundesrepublik zum zweiten wichtigen Treffpunkt für deutschsprachige Gegenwartsdramatik neben den 1976 gegründeten Mülheimer Theatertagen. Dort gewann übrigens Heiner Müller 1979 den Dramatikerpreis mit "Germania Tod in Berlin" in der Inszenierung Ernst Wendts, die ich in den Münchner Kammerspielen gesehen hatte. Für den Heidelberger Stückemarkt war nahezu von Anfang an typisch, dass er den gesamten deutschsprachigen Raum einbezog: neben der Bundesrepublik auch Österreich, die Schweiz und die DDR.

Nnoch beim 6. Stückemarkt im Mai 1989 waren Deutschland wie die Köpfe der Menschen gespalten. Foto: Programmhefte

Die latente Bedeutung Berlins – und damit der deutschen Teilung – beim Heidelberger Stückemarkt zeichnete sich seit Mitte der Achtzigerjahre auch im Programm ab. Und sie brach sich vor dreißig Jahren in der Festivalausgabe 1990 vollends Bahn. Ein halbes Jahr nach dem historischen Mauerfall am 9. November 1989 und im Vorfeld der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 stand das Theaterfestival komplett im Zeichen des zweiten deutschen Staates und folgte dem Motto "Zeitgenossen – Stücke aus der DDR". Es war die einzige Stückemarktausgabe, die allein auf ein deutschsprachiges Land fokussiert war.

Intendant Peter Stoltzenberg dazu im Programmheft: "Liebe Theaterfreunde, auf dem 7. Heidelberger Stückemarkt werden wir unter dem Titel ‚Zeitgenossen’ 16 Autoren aus der DDR vorstellen. Zehn dieser Autoren werden zum ersten Mal überhaupt in der BRD gespielt. Aufgeführt werden ihre Stücke ausschließlich von Theatern aus der DDR, sodass wir glauben dürfen, Ihnen damit fast so etwas wie einen authentischen Überblick über die zeitgenössische Dramenproduktion der DDR zu bieten – jedenfalls ist dieser Stückemarkt innerhalb der BRD die umfangreichste Gastspielrepräsentation von DDR-Dramatik in der Geschichte der beiden deutschen Staaten."

Beteiligt waren damals aus Berlin das Deutsche Theater, die Volksbühne sowie das Maxim-Gorki-Theater, aber auch etwa das Städtische Theater Leipzig oder das Hans-Otto-Theater Potsdam. Unter den gespielten Dramatikern waren so namhafte Autoren wie Christoph Hein, Volker Braun und Ulrich Plenzdorf, die auch schon während meines Studiums wichtig gewesen waren.

Da war sie nun, die deutsche Wiedervereinigung im Heidelberger Theater – der Glücksmoment deutscher Geschichte. Ich weiß noch genau, wie ich erwartungsvoll vor den Türen des damaligen Studios (heute Zwinger 3) stand. Dort führte das Kleist-Theater Frankfurt/Oder mit Christoph Heins Bühnenwerk "Die Ritter der Tafelrunde" ein Schlüsselwerk aus der Endphase der DDR auf. Spannend war auch das Gastspiel des Maxim-Gorki-Theaters mit "Transit Europa" von Volker Braun, dessen Werk ich kannte und den ich 1996 aus Anlass der Heidelberger Poetikdozentur in seiner Wohnung in Berlin-Pankow besuchte.

Licht in der Dunkelheit: 1990 entführten die DDR-Bühnen in ein unbekanntes Land. Foto:  Programmhefte

Ich freute mich beim Stückemarkt 1990 über die geballte Ladung DDR auf der Bühne. Sie kündete lebensprall von dem lange verwunschenen deutschen Bruderstaat, der in meiner Kindheit und Jugend verschwunden war hinter den Bildern von der Mauer oder den Plakaten "3 geteilt? Niemals!" des Kuratoriums Unteilbares Deutschland, das zu den deutschen Grenzen von 1937 zurückkehren wollte. Und auch später blieb die DDR trotz aller Beschäftigung mir ihr ein mental weit entferntes Land. Zwar hatte ich die dortigen Veränderungen schon seit vielen Jahren interessiert verfolgt, aber als die Mauer plötzlich geöffnet wurde, war auch ich vollkommen überrascht vom durschlagenden Erfolg der Friedlichen Revolution.

Diese war durch die Leipziger Montagsdemonstrationen entscheidend befeuert worden. Und beim Stückemarkt des Jahres 1991, der wieder dem deutschsprachigen Raum gewidmet war, steuerte das Schauspiel Leipzig mit vier Aufführungen einen Schwerpunkt bei, der sich sogar im Festivaltitel niederschlug: "8. Heidelberger Stückemarkt und Leipziger Neue Szene". Das Theater Heidelberg begann damals eine mehrjährige Kooperation mit dem Schauspiel Leipzig, das 1991 das aktuelle und bis heute bestehende Theaterfestival "euro-scene Leipzig" begründete.

Ich führte seinerzeit ein ganzseitiges Interview mit dem Leipziger Intendanten Wolfgang Hauswald und dem Chefdramaturgen Wolfgang Kröplin, das unter dem Titel "Theater im Zentrum des Aufbruchs" in der RNZ erschien. Darin bestätigte Hauswald die Bedeutung seines Hauses für die Protestbewegung während der Auflösung der DDR: "Ja, es stimmt, dass das Leipziger Schauspiel neben der Kirche in Leipzig ein Kristallisationspunkt war für Leute, die sich hier noch in einem öffentlichen Raum verständigen konnten."

Mit den häufigen Teilnahmen in den Neunzigerjahren wurde der Grundstein dafür gelegt, dass das Schauspiel Leipzig heute mit 18 Aufführungen an der Spitze der beim Heidelberger Stückemarkt vertretenen Theaterhäuser steht. Die Einladung mit Martina Clavadetschers Stück "Frau Ada denkt Unerhörtes" wäre 2020 das 19. Gastspiel am Neckar gewesen.

Allerdings traten ab 1991 neben die bedeutenden Bühnen aus der früheren DDR wieder die westlichen Spitzenhäuser aus Wien, Berlin, München oder Hamburg. Gegenüber dem Werkstattcharakter der frühen Jahrgänge wurde der Heidelberger Stückemarkt bis zum Ende der Ära Stoltzenberg 1995 zu einem Stelldichein der führenden deutschsprachigen Theater – auch mit Gastspielen des Wiener Burgtheaters oder des Berliner Ensembles.

So glanzvoll die Namen beim Heidelberger Stückemarkt damals aber auch waren, die bedeutenden Gastspiele wurden lediglich aneinandergereiht. Nach dem Großerlebnis der Wiedervereinigung vermisste ich ein lebendiges Theaterfestival, das sich offensiv mit der veränderten Weltlage auseinandersetzte. Um beim Stückemarkt zu einem organischen Ganzen zu gelangen, schlug ich 1995 in dem Artikel "Bündelung und Ausstrahlung" die Schaffung einer inneren Festivalstruktur mit der Einrichtung eines Theaterpreises sowie eines Rahmenprogramms vor.

Und diese Anregungen wurden im Folgejahr Realität. Der neue Intendant Volkmar Clauß richtete 1996 mit dem "Forum junger Autoren" den Autorenwettbewerb samt Preisvergabe ein, der bis heute das Herzstück des Stückemarkts bildet; ein gehaltvolles Rahmenprogramm kam hinzu. Damit setzte nach Stoltzenbergs Gründerzeit eine zweite Festivalphase der bedeutenden Innovationen ein: Neben Clauß‘ Autorenwettbewerb trat unter Intendant Günther Beelitz die internationale Dimension mit dem Gastland, das ebenfalls bis in die Gegenwart Bestand hat. Diese Grundzüge wurden schließlich in einer dritten Phase von den Intendanten Peter Spuhler sowie Holger Schultze konsolidierend und optimierend fortgeführt.

Aber die Phasen zwei und drei des Heidelberger Stückemarkts verdienen noch bei anderer Gelegenheit ausführliche Betrachtungen. Dabei wäre auch die Frage nach der Zukunft des Festivals zu stellen, denn dieses ist nun schon eine ganze Reihe von Jahren auf eingefahrenen Gleisen unterwegs. Jetzt habe ich den Blick auch deshalb auf die Anfangsjahre gerichtet, weil sie für mich durch alle Festivaljahrgänge bis heute hindurchscheinen.