Theater Heidelberg

Grandioser Irrwitz - "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen"  von Gogol

Regisseur Michael Letmathe gibt seinem Hauptdarsteller viel Raum zur Entfaltung.

11.06.2022 UPDATE: 13.06.2022 06:00 Uhr 1 Minute, 39 Sekunden
Leon Maria Spiegelberg beeindruckt als „Wahnsinniger“. Foto: Susanne Reichardt

Von Ingeborg Salomon

Heidelberg. Dass das Theater Heidelberg schnell reagiert, wenn es darum geht, aktuelle Stoffe auf die Bühne zu bringen, zeigt sich derzeit am Themenkomplex Ukraine. So hatten jetzt die "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen" nach einer Erzählung von Nikolai Gogol im Alten Saal Premiere – schnell mal ins ohnehin übervolle Programm eingeschoben. Der russische Schriftsteller ukrainischer Herkunft schuf 1835 mit dieser tragisch-grotesken Novelle um einen Verwaltungsbeamten, der raus will aus dem täglichen Trott und dabei mehr und mehr den Bezug zur Realität verliert, Weltliteratur.

In einem 80-minütigen Monolog zieht Leon Maria Spiegelberg die Zuschauer immer tiefer in die Gefühlswelt von Aksenti Iwanowitsch. Was anfangs noch nachvollziehbar ist – Überdruss an einer öden Bürotätigkeit und eine ziemlich hoffnungslose Liebe zur Tochter seines Vorgesetzten – wird allmählich immer skurriler. Gerade erst 28 Jahre alt, verliert sich Iwanowitsch immer mehr in einer Traumwelt; heute würden Psychiater wahrscheinlich ein schweres Burn-out und eine jugendliche Schizophrenie diagnostizieren.

Was mit sprechenden Hunden beginnt, endet in dem Glauben, der nächste spanische König zu sein. Doch dann holt die Realität Aksenti Iwanowitsch wieder ein, er findet sich in einer Irrenanstalt wieder samt grausamer "Behandlungsmethoden" der damaligen Zeit. Da ist der Zuschauer schon fast erleichtert, dass der Ärmste das nur noch ziemlich verschwommen in seiner Wahnvorstellung als König wahrnimmt.

Leon Maria Spiegelberg stemmt diesen Monolog höchst eindrucksvoll und schafft es sogar noch, "Das große Lalula" von Christian Morgenstern ganz zwanglos einzubauen: "Kroklokwafzi? Semmememmi! Seiokrontro - prafriplo: Bifzi, bafzi; hulalemmi: quasti basti bo...", usw. Wahnsinn, wie lässig dieser Zungenbrecher Spiegelberg über die Lippen kommt! Abgesehen von dieser Nonsense-Einlage beherrscht der 29-Jährige sowohl die leisen als auch die schrillen Töne. Blitzschnell verwandelt er sich in ein Hündchen, das sich mit einem anderen Hund Briefe schreibt; dabei geben die Vierpfoter tiefe Einblicke in die St. Petersburger Gesellschaft mit ihrem hierarchischen Beamtenapparat. "Woher kommen die Unterschiede?" fragt der verwirrte Protagonist. Ja, woher?

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Regisseur Michael Letmathe gibt seinem Hauptdarsteller viel Raum zur Entfaltung, die Bühne (eingerichtet von Peer Rudolph) öffnet sich immer mehr, so dass sich Iwanowitsch zunehmend auch räumlich verliert. Karsten Rischers kluge Lichtregie folgt den sich ständig zuspitzenden Wahnvorstellungen, indem die Bühne immer wieder in kaltes blaues Licht getaucht wird. Zum Schluss findet sich der vermeintliche König von Spanien selig lächelnd unter einem Sternenhimmel wieder. So schön kann Irrsinn auf der Bühne sein!

Das Publikum zeigte sich zu Recht schwer beeindruckt und applaudierte dem grandiosen Hauptdarsteller sowie dem ganzen Regieteam begeistert. Wer die "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen" sehen will, muss sich allerdings beeilen; es gibt nur noch eine Vorstellung am Sonntag, 19. Juni, um 15 Uhr. Daher die dringende Bitte: Unbedingt in die nächste Spielzeit übernehmen!

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