Wie das Nationaltheater gegen den Publikumsschwund kämpft
Das Leitungsteam des Theaters stellte den Spielplan für die kommende Saison 2023/24 vor.

Von Volker Oesterreich
Mannheim. Theater ist nur wirklich dann Theater, wenn es Krisen bewältigt. Im Nationaltheater Mannheim (NTM) kennt man sich damit aus. Gewaltige Sanierungsanstrengungen im Haupthaus, dessen Wiedereröffnung sich bis zur Saison 2028/29 hinzieht. Probleme mit der Ersatzspielstätte "Opal" (Oper am Luisenpark), weil erst die beauftragte Baufirma pleite ging und das Projekt nun in Eigenregie gestemmt werden muss. Mehrkosten dadurch von 6,3 Millionen Euro und ein Zeitverzug bis zum Spielzeitende 2023/24.
Trotzdem sind die Stadtverwaltung und das Intendanten-Quintett gewillt, sich wie weiland Baron Münchhausen selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Kalamitäten zu ziehen. Bei der Vorstellung des Programms für die nächste Spielzeit schauten jedenfalls alle zuversichtlich aus der Wäsche. Sei es aus Pflichtgefühl, aus innerer Überzeugung oder weil in Kürze die 22. Internationalen Schillertage mit "Wilhelm Tell" beginnen.
> Publikumsschwund: Im Vergleich zur Zeit vor Corona und vor dem Sanierungsbeginn verzeichnet man im Nationaltheater einen Einbruch von rund 30 Prozent bei den Publikumszahlen. Hauptgrund dafür seien die Bauverzögerungen bei der Opal-Spielstätte und die geringere Platzkapazität in den Ausweichquartieren, sagte der Geschäftsführende Intendant Tilmann Pröllochs auf Anfrage. Trotzdem strahlt er Optimismus aus: "Ich freue mich, dass der Gemeinderat den Weg dafür freigemacht hat, dass wir in der kommenden Spielzeit mit der Oper weiter in der Alten Schildkrötfabrik und im Rosengarten spielen können. Wir können in allen Sparten wieder stärker auf unser Publikum zugehen." Ab 10. Juli seien wieder verschiedene Abonnements erhältlich, vom Wahl-Abo bis zum Unikat-Abo für Auszubildende und Studierende. Pröllochs will damit die Lust wecken, "mit uns um die Häuser zu ziehen".
> Oper: Elf Premieren plant der Musiktheater-Chef Albrecht Puhlmann. Er will "die grandiose Welt der Oper von Vivaldi über Mozart, Verdi, Mussorgsky und Puccini abbilden – bis hin zu Hans Thomallas Uraufführung ,Dark Fall’". Am 25. September startet seine Sparte zunächst mit dem Open-Air-Konzert "Make Our Garden Grow" auf der Spinelli-Bühne der Bundesgartenschau in die Saison. Die erste Premiere folgt mit Puccinis konzertantem "Turandot" im Musensaal des Rosengartens, am Pult steht dann der neue Generalmusikdirektor Roberto Rizzi Brignoli. Letzterer nimmt sich auch Mussorgskys hochpolitischen "Boris Godunow" zur Brust, nun im Pfalzbau Ludwigshafen. Das weitere Spektrum reicht vom partizipativen Musiktheater "Der Wal" von Alexander Schweiß über den halbszenischen Strauss-Evergreen "Die Fledermaus" bis zum erwähnten "Dark Fall" nach Motiven von Goethes "Wahlverwandtschaften". Puhlmanns Fazit: "Wir erleben stürmische, aber dennoch produktive Zeiten."
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> Schauspiel: Diesen Satz könnte auch der Schauspiel-Intendant Christian Holtzhauer gesagt haben. Er plant zwölf Premieren, darunter vier Uraufführungen und eine deutschsprachige Erstaufführung. Hinzu kommen zwei Projekte des Mannheimer Stadtensembles von Beata Anna Schmutz. Gestartet wird mit der Uraufführung von Svenja Viola Bungartens Familien-Kuddelmuddel "Die Zukünftige" über zwei Schwestern einer Zahnarztfamilie, die entfernte Verwandte von Erich Kästners "Doppeltem Lottchen" sein könnten. Mannheims Hausregisseur Christian Weise knöpft sich mit "Was ihr wollt" Shakespeares vielleicht verrückteste Liebeskomödie vor, gezeigt wird sie in der vom Publikum gut angenommenen Ersatzspielstätte im Alten Kino auf dem Franklin-Areal. Dort steigt unter dem Titel "Altweibersommer / Babie lato" auch eine Koproduktion mit dem Theater Krakau, gefolgt von der Lessing-Überschreibung "Nathan" aus der Feder des derzeit viel beschäftigten Dramatikers Nuran David Calis. Er verpflanzt das alte Toleranz-Drama in eine deutsche Großstadt unserer Tage. Zu den weiteren Schauspiel-Projekten gehören eine Uraufführung des neuen Mannheimer Hausautors Amir Gudazi, die Dramatisierung des epochalen Melville-Romans "Moby Dick" und Bertolt Brechts unverwüstliche "Dreigroschenoper".
> Junges Nationaltheater: Spartenübergreifend und innovativ wie immer sind die sechs Uraufführungen für das junge Publikum von 2+ bis 14+ angelegt. Die Allerjüngsten können sich bei "Schaum ich an" mit schäumenden Seifenblasen und lauter anderen fluffigen oder blubbernden Stoffen auseinandersetzen. Ulrike Stöck, die Intendantin der Sparte, richtet sich mit ihrem Musiktheater-Projekt "Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit" an Jugendliche ab 14 Jahren. Sie erinnert sich dabei an ihre eigene Familie, die aus der Chemieregion der ehemaligen DDR stammt, sie späht aber zur BASF am anderen Rheinufer. Bei den weiteren Projekten sind entweder "Fantastische Drachenwesen im Ferienlager" unterwegs, oder es kann das Lügen in Form eines Budenzaubers geübt werden. Sinnliche Impressionen versprechen darüber hinaus Produktionen über das Abschmecken oder das Hören, Fühlen und Riechen.
> Tanz: Der NTM-Tanz-Chef Stephan Thoss interpretiert unter dem Titel "Don José" den "Carmen"-Stoff neu, er macht seiner Truppe gemeinsam mit dem Schlagwerk Mannheim Beine, lädt zu Improvisations-Abenden im Dezember und setzt bei "Identity", "Seasons in Dance", "Where we belong" und der nächsten "Choreografischen Werkstatt" auf ein Maximum an Abwechslung. Angesichts des Ukraine-Kriegs, der Inflation und anderer Krisen innerhalb und außerhalb des Theaters sagt Thoss: "Wir tanzen und glauben, dass Kunst gerade jetzt wichtig ist, um nicht von einer sich ausbreitenden Ohnmacht überwältigt zu werden."
Info: www.nationaltheater.de




