Nationaltheater Mannheim

"Wie man mit Toten spricht" von ukrainischer Autorin

Stimmen aus dem Massengrab: Spurensuche von Anastasiia Kosodii am Werkhaus.

25.04.2023 UPDATE: 25.04.2023 06:00 Uhr 2 Minuten, 14 Sekunden
Flotte Songs durchbrechen die Stille des Todes: Alina Kostyukova, Leonard Burkhardt und Annemarie Brüntjen (v. l.) in einer Szene der Mannheimer Uraufführung. Foto: M. Borchardt

Von Heribert Vogt

Mannheim. Die in der Ukraine getöteten Menschen sind nicht wirklich tot – im Gegenteil: Nach ihrem unfassbaren Verschwinden leben sie in den Träumen, Erinnerungen und Gedanken der Zurückgebliebenen fort. Dies führt das Stück "Wie man mit Toten spricht" der ukrainischen Autorin Anastasiia Kosodii, das im Werkhaus des Nationaltheaters Mannheim uraufgeführt wurde, eindringlich vor Augen. In der Szenen-Collage, bei der Kosodii zudem Regie führt, treten schließlich auch Gräuel des russischen Angriffskriegs wie Folter und Verstümmelungen hervor.

Dies geschieht etwa bei Exhumierungen aus einem anonymen Massengrab in Butscha. Die an den Leichen abzulesenden Spuren sprechen die finstere Sprache menschlicher Bestialität. Aber im übertragenen Sinne liegen alle Toten dieses Krieges in einem riesigen Massengrab. Die darin Bestatteten werden zwar jeweils von einzelnen Lebenden vermisst und betrauert, aber sie gehen auch ein in das kollektive Gedächtnis der Ukrainer. Und dort werden sie noch sehr, sehr lange von dem unsagbaren Geschehen berichten. Das wird klar, wenn man an die zahlreichen Stimmen der Opfer aus dem Zweiten Weltkrieg denkt, die bis heute unüberhörbar zu vernehmen sind.

Im Zentrum des von Lydia Nagel ins Deutsche übersetzten Stücks, eines Auftragswerks des Nationaltheaters, steht eine junge Ukrainerin, die nach einem Umgang mit ihren Verlusten und Traumata sucht. Im Geiste begegnet sie zwei Freunden wieder, die im Krieg gestorben sind. Und sie sucht zerstörte Städte auf: Bachmut, früher die Stadt der Rosen und des Champagners im Osten des Landes, oder Mariupol, die nun in Ruinen liegende Kulturmetropole am Ufer des Asowschen Meeres, auch die Hauptstadt Kiew und kleine Dörfer. Dabei verschwimmen Orte, Zeitebenen und Figuren. Wiederholt denkt die junge Frau an einen imaginären deutschen Soldaten auf dem Weg zur Front, dem Deutschland dafür 8000 Euro zahlt.

Auf der kargen Spielfläche sind wenige Requisiten zu sehen: zwei Eisenbahnsitze, ein Kühlschrank, ein Klavier – alles ist alt (Bühne und Kostüme: Olha Steblak). Während der Aufführung in deutscher sowie ukrainischer Sprache – mit jeweiliger Übersetzung – agieren dazwischen etwa Annemarie Brüntjen als Spurensucherin, Alina Kostyukova als ukrainische Kämpferin und Leonard Burkhardt als deutscher Soldat. In wechselnden Rollen führen sie mitten hinein in das montierte, höchst gefährliche Leben zwischen Luftalarm-App, Sperrstunde und Sirenengeheul angesichts tödlicher russischer Raketenangriffe auch auf Wohngebiete.

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All dies muss unausweichlich in einer beklemmenden Atmosphäre stattfinden. Sie wird allerdings durch einige flott dargebotene Popsongs (Musik: Yuriy Gurzhy) aufgebrochen, die eindrucksvoll vom (Über-) Lebenswillen der vom Krieg terrorisierten Menschen künden. Am Ende scheint die Musik fast erstorben, nur noch geschredderte Ton- und Klangfetzen sind zu hören. Aber dann schleichen sich in diese akustische Trümmerlandschaft erst allmählich, danach energischer doch wieder Melodie und Gestaltungswille.

Nachdenkliche Sätze wie "Abschiede sollte man aufschieben" oder "Die Toten kommen im Traum zu uns" zeugen von dem anhaltenden Gespräch zwischen den Lebenden und den Verstorbenen. Es wird Teil des nationalen Hallraums der ukrainischen Geschichte, in dem bis in die Gegenwart auch die Stimmen der Opfer der durch die Sowjetunion verursachten Hungerkatastrophe des Holodomor sowie der deutschen Verbrechen der Nazi-Zeit mitschwingen. Letzteres geschieht jetzt auf der Bühne eher subtil, unterstreicht aber doch die besondere Verantwortung Deutschlands für das heutige Geschehen in der Ukraine.

Insgesamt war es trotz des Kriegslärms im Hintergrund ein eher stiller achtzigminütiger Theaterabend, der den Toten nachlauschte. Da versiegte manchmal auch einfach die Sprache in Passagen des ernüchterten Schweigens. Dazu passt, dass die Premiere ohne Applaus endete. Es erschien lediglich die Schrift: "Die Vorstellung ist zu Ende. Sie können jetzt gehen." Und diesem Hinweis kam das berührte Publikum nach.

Info: Nächste Termine: 10., 12., 20. Mai; www.nationaltheater-mannheim.de 

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