Langzeitwirkung der 68-er-Bewegung: Der Protest gegen die Lagerung von Atomraketen auf dem US-Depot in Mutlangen erreichte im September 1983 seinen Höhepunkt: Drei Tage lang wurde die Zufahrt von Demonstranten blockiert – unter ihnen (mit Baskenmütze) auch der Schriftsteller und Nobelpreisträger Heinrich Böll. Foto: dpa
Von Ursula Christmann
Rückblickend steht das Kürzel "68" für das Wagnis der Demokratie, das es immer wieder neu zu definieren und in gelebte Wirklichkeit umzusetzen gilt. Ein solcher noch zu realisierender Gesellschaftsentwurf wird gemeinhin Utopie genannt. Deshalb beginnt Ben Roegs literarisches Sachbuch zur Utopiegeschichte sinnvollerweise mit der 68er-Bewegung, durch die die Bundesrepublik erst wirklich in der nach dem Krieg zunächst verordneten Demokratie angekommen ist. So zumindest die These, die der Erzählung "Acht und sechzig" zugrunde liegt. Dabei wendet der Autor den Kunstgriff an, das Jahr 1968 nicht aus der Sicht eines studentischen Aktionisten-Paars zu schildern, sondern aus den Perspektiven einmal der 60-jährigen Eltern, zum anderen der achtjährigen Tochter dieses Paars.
Dadurch werden auf der einen Seite die historischen Belastungen der deutschen Geschichte, vor allem der nationalsozialistischen Zeit, sowie die konservativ-autoritären Strukturen deutlich, aus denen sich die Umsturz-Motivation der 68er in schmerzhaft-verzweifelter Weise gespeist hat. Auf der anderen Seite kommen auf diese Weise aber auch die überzogenen, kontraproduktiven Konzepte eines gegen alle Regeln eingestellten Zusammenlebens zum Vorschein, die nicht nur für die Psyche eines Kindes überfordernd waren: zum Beispiel durch die verabsolutierte sexuelle Freizügigkeit, den Verlust von Privatheit und die permanenten Beziehungsdiskussionen. Dennoch zieht die dann 48-jährige Tochter, die als Gastdozentin in den USA die erstmalige Wahl eines Schwarzen zum Präsidenten miterlebt, ein positives Fazit, was die Wirksamkeit der 68er für die gesellschaftlichen Fortschritt betrifft: nicht zuletzt durch die Entwicklung von neuen demokratischen Aktionsformen des Protestierens und Demonstrierens, die die nachfolgende bundesdeutsche Geschichte mitgeprägt haben - bis hin zu ihrem heutigen Einsatz in rechtspopulistischen Strömungen.
Die zentrale Langzeitwirkung dieser Demokratisierung kann man im Kampf um den Ausstieg aus der Atomkraft sehen, dem denn auch das umfangreichste Kapitel "Wahl-Verwandtschaften" gewidmet ist. Hier besteht der Kunstgriff darin, dass eine zu Goethes "Wahlverwandtschaften" parallele Konstellation von vier Hauptpersonen gewählt wird, die es ermöglicht, die verschiedenen Ebenen und Phasen des Kampfs sowohl gegen die militärische wie die sogenannte friedliche Nutzung der Kernkraft nebeneinander und zugleich ineinander verschränkt darzustellen. Außerdem wird an einer eventuellen (oder nur scheinbaren?) Inzest-Beziehung zwischen Vater und Tochter verdeutlicht, wie sich der Staat übergreifend ideologisch in die Privatsphäre seiner Bürger/innen einmischt, während er ihren Schutz von Leib und Leben unverantwortlich vernachlässigt.
Diese These ergibt sich aus der Sequenz aller wichtigen Stationen der Atomkraft-Gegner, die als Teil des Lebens der vier Protagonisten erzählt werden: vom Nato-Doppelbeschluss bis zu den Start I und II-Abkommen, von Brokdorf, Wackersdorf, Mutlangen etc. bis zu Tschernobyl und Fukoshima mit der Konsequenz des (zweiten) Ausstiegs aus der Aufhebung des (ersten) Ausstiegs.
Die Erzählung spielt ersichtlich im Heidelberger Raum, sie weist also für hiesige Leserinnen und Leser zusätzlich Lokalkolorit auf: Neben dem Bergfriedhof und Philosophenweg zum Beispiel kommen sowohl die Heidelberger Programmkinos als auch die Falken im Turm der Heiliggeist-Kirche vor - und noch vieles mehr. Es ist gerade diese literarisch-erzählerische Einbettung der politischen Entwicklungen, die nicht nur die Atmosphäre der damaligen Zeit nachvollziehbar macht, sondern auch eine Faszination für den unermüdlichen Versuch utopischer Gesellschaftsveränderungen vermittelt.
Das gilt schließlich auch für die letzte Erzählung "Requiesam", in der es um das noch nicht erfolgreich abgeschlossene Projekt der Sterbehilfe bei rational begründetem Leidens-Suizid geht - hier als Vernehmungen in einem Kriminalfall aufgearbeitet. Insgesamt also ein literarisches Sachbuch, bei dem die historischen Ereignisse durch die erzählerische Einbettung und Verdichtung lebendig werden und das auf diese Weise Mut macht, sich immer wieder und weiter für positive Utopien zur Veränderung der Gesellschaft, zur Verbesserung der Lebenssituation zu engagieren.
Info: Ben Roeg: "Verwandtschaften. Politische Real-Fiktionen aus sieben Jahrzehnten bundesdeutscher Utopie-Geschichte". Custos Verlag, Solingen 2018, 177 Seiten, 11,90 Euro.