Christoph Butterwegge erwartet mehr Armut in der Mitte der Gesellschaft
Der Politikwissenschaftler warnt vor einer wachsenden sozialen Spaltung. Die Armut greife in die Mitte der Gesellschaft über und werde durch die Abschaffung des Bürgergeldes verschärft.

Von Gernot Heller, RNZ Berlin
Berlin. Christoph Butterwegge ist Politikwissenschaftler und Mitglied im Wissenschaftlichen Gutachtergremium für den 7. Armuts- und Reichtumsbericht.
Herr Butterwege, wie entwickelt sich die Armut aktuell in Deutschland?
Ich gehe davon aus, dass die Armut wegen der steigenden Preise und der wachsenden Mieten stärker in die Mitte der Gesellschaft vordringt, wodurch sich die Arbeits- und Lebensbedingungen von Millionen Menschen verschlechtern. Das hat einmal mit den sich häufenden und überlappenden Krisen zu tun, also der Covid-19-Pandemie sowie der Energiepreisexplosion infolge des Ukraine-Krieges und der Inflation, die als Katalysatoren wirken, was Armut und soziale Ungleichheit angeht.
Noch entscheidender könnten politische Maßnahmen sein, die nach einer wenig seriösen Diskussion über die angeblich nicht mehr tragbaren Kosten des Sozialstaates von der CDU/CSU/SPD-Koalition im "Herbst der Reformen" getroffen werden. Dabei geht es um Leistungskürzungen für alle von Sozialtransfers abhängigen Menschen, die mit dem Missbrauch durch eine kleine Minderheit gerechtfertigt werden und die Armut weiter verschärfen dürften. Ich nenne als Beispiel die kürzlich vereinbarte Abschaffung des Bürgergeldes.
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Wie viele Menschen leben denn in Deutschland in Armut?
Laut dem Statistischen Bundesamt sind es 15,5 Prozent der Bevölkerung, die als armutsgefährdet gelten – das sind knapp 13 Millionen Menschen. Allerdings verwendet das Statistische Bundesamt eine neue Datengrundlage, nach der die Armutsgefährdung stagniert.
Nach den früher verwendeten Daten, die nach meiner Auffassung ein realistischeres Bild vermitteln, wären es 16,5 Prozent und rund eine Million Menschen mehr. Nicht zuletzt angesichts der Mietsteigerungen in vielen Städten sollte man auch nicht von Armutsgefährdung sprechen, sondern schlicht von Einkommensarmut. Für mich ist die EU-offizielle Begrifflichkeit verharmlosend.
Wird die Armut zunehmend zu einem Spaltpilz für die Gesellschaft?
Das befürchte ich. Armut und soziale Ungleichheit sind für mich das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der gesamten Menschheit. Daraus erwachsen ökonomische Krisen, ökologische Katastrophen und soziale Konflikte, im globalen Maßstab sogar Kriege und Bürgerkriege. Tendenzen der sozialen Polarisierung, der grassierenden Armut und der zunehmenden Konzentration des Reichtums finden bei uns zu wenig Beachtung. Die ausgeprägte Ungleichheit ist Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und eine Gefahr für die Demokratie.
Gibt es trotz der Sparzwänge der öffentlichen Haushalte Aussichten, die Armut tendenziell zurückzudrängen?
Armutsbekämpfung kostet viel Geld, ist aber dringend erforderlich. Nur weigern sich die Regierungsparteien, die erforderlichen Finanzmittel durch Steuererhöhungen bei denjenigen zu holen, die es haben. Lieber wird der Sozialstaat zum Sündenbock für eine verfehlte Regierungspolitik gemacht, was einen Verfall der politischen Kultur darstellt.
Das allgegenwärtige Sozialstaats-Bashing ist von einem Mangel an Solidarität geprägt. Statt die Hochvermögenden und die Spitzenverdiener mehr finanzielle Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen zu lassen, will man Haushaltslöcher durch Kürzungen bei den Armen stopfen. Wenn selbst der Bundespräsident auf dem letzten Deutschen Fürsorgetag davon sprach, dass die Kosten des Bürgergeldes "aus dem Ruder" liefen, ist das bedenklich. Denn es stimmt nur, wenn man auf die absoluten Zahlen blickt.
Dann ist das Bürgergeld teurer als es das Arbeitslosengeld II, also Hartz IV, vor zehn Jahren war. Misst man es aber an dem Bruttoinlandsprodukt, auch am Volumen des Bundeshaushalts, so stellt sich heraus: Der Anteil des Bürgergeldes am Bruttoinlandsprodukt ist sogar gesunken. Dasselbe gilt für den stark in der Diskussion stehenden Bundeszuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung.
Auch der ist, absolut gesehen, so hoch wie nie, doch das kann ja nicht der Maßstab sein. Insofern verläuft die Diskussion in falschen Bahnen. Die These, der Sozialstaat sei zu teuer, nicht mehr bezahlbar, nicht zukunftsfähig, dient letztlich nur dazu, ein Horrorszenario zu entwerfen und den Menschen einzureden, alle müssten den Gürtel enger schnallen.
Können die Armen selbst etwas tun, um ihre Lage zu verbessern?
Nein, denn das Problem ist kein individuelles, sondern ein strukturelles. Natürlich gibt es Fälle, in denen Betroffene falsche Entscheidungen getroffen haben, gewissermaßen in ihrem Lebenslauf falsch abgebogen sind. Armut in einem so wohlhabenden, wenn nicht reichen Land wie dem unseren ist politisch bedingt und muss deshalb auch von Parlament und Regierung gelöst werden.
Was müssten die politisch Verantwortlichen also tun?
Wenn meine Analyse richtig ist, sind im Wesentlichen drei Schritte nötig. Zum einen müsste der Arbeitsmarkt nach den Deregulierungen der Vergangenheit wieder rereguliert werden. Beispielsweise durch eine stärkere Anhebung des Mindestlohns, eine Stärkung der Tarifbindung und ein Verbot der Leiharbeit.
Dann dürfte der Sozialstaat nicht abgebaut werden, sondern er müsste ausgebaut werden zu einer solidarischen Bürgerversicherung, in die alle einzahlen, auch Selbstständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister. Und schließlich brauchen wir ein gerechteres Steuersystem, in dem man nicht mehr einen ganzen Konzern erben kann, ohne einen Cent Erbschaftsteuer zahlen zu müssen.