Warum Erinnern für das Heute wichtig ist
Rednerin Katja Makhotina sprach über Verfolgung der Slawen und über die "Ungerechtigkeit gegenüber der Ukraine".

Von Leon Kaessmann
Heidelberg. Die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz im Jahr 1945 jährte sich am 27. Januar zum 78. Mal. An diesem bundesweiten Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erinnerte die Stadt Heidelberg im Rathaus an die Opfer der Terrorherrschaft. "Auschwitz steht stellvertretend für Millionen von ermordeten Juden", sagte Bürgermeister Raoul Schmidt-Lamontain (Grüne), der die Gedenkfeier eröffnete und die Bedeutung der Erinnerungskultur betonte.
Die Stadt stellt jedes Jahr eine andere Verfolgtengruppe in den Mittelpunkt der Gedenkveranstaltung. Dieses Jahr sprach Katja Makhotina, Professorin an der Abteilung für Osteuropäische Geschichte an der Uni Bonn, über die Verfolgung der Slawen und die tiefen Wunden, die das NS-Regime in Osteuropa hinterlassen hat. In ihrem Vortrag "Erinnern ohne Trost. Vom Sinn der Kriegserinnerung in der Gegenwart" zitierte sie slawische Kriegsopfer.
"Die Bomben waren zu hören. Wir wussten, dass unsere Kameraden zur Rettung kommen", erinnerte sich Cecilia Dzevenska, eine 40 Jahre alte Lehrerin aus der polnischen Stadt Lodz. "Ich hatte keine Kraft mehr, mir war schwindelig vor Hunger. Ich denke: Noch ein Tag und ich sterbe, aber der Gedanke, dass unsere Freunde kommen, gab mir Kraft." Cecilia hatte das Glück zu überleben, erzählte Rednerin Makhotina, doch die meisten Befreiten seien nicht mehr in der Lage gewesen, zu danken.
Auch die abgehärteten sowjetischen Soldaten, die das Konzentrationslager Auschwitz befreiten, hätten es kaum ein paar Minuten dort ausgehalten. Vasilij Petrenko, einer der ersten Rotarmisten, der das Gelände betrat, erinnerte sich: "Wir wurden von ausgemergelten Häftlingen in gestreifter Kleidung angesprochen, die in verschiedenen Sprachen etwas sagten. Sie waren lebende Skelette."
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Dabei waren viele sowjetische Juden gar nicht in den Konzentrationslagern, sondern andernorts ermordet worden. Das könnte ein Grund sein, warum die Verfolgung der Slawen in Deutschland so wenig präsent sei, mutmaßte Makhotina. Sie sprach von einem "Holocaust vor Auschwitz", der Massenmord an jüdischen Belarussen, Russen und Ukrainern, die eben nicht in den "industriellen Tötungsfabriken" ermordet, sondern massenhaft erschossen wurden.
Einen "bemerkenswerten Zufall" nannte es Makhotina, dass am 27. Januar nicht nur Auschwitz, sondern auch die sowjetische Stadt Leningrad befreit wurde. Nur geschah dies genau ein Jahr früher, also 1944. Im Rahmen der über zwei Jahre andauernden Leningrader Blockade wollten die Nationalsozialisten keine Kapitulation erreichen, sagte Makhotina. Ziel sei es gewesen, die Bevölkerung auszuhungern – bis zum bitteren Ende.
Was aus dieser Zeit bleibt, sind etliche Tagebücher, aus denen die Rednerin vorlas. Jura Rjabinkin, ein 16-jähriger Schüler aus Leningrad, schreibt in seinem Tagebuch, dass er friere, müde und hungrig sei. Sein Zustand verschlechterte sich im Laufe der Monate, er sprach von völliger Entkräftung. "Was hat Gott mit mir vor?", fragte er sich, "ich bin doch erst 16." Die Blockade überlebte er nicht. Er war zu schwach.
Makhotina erzählte auch von verbrannten Dörfern in der Sowjetunion, so zum Beispiel vom ukrainischen Dorf Korjukivka. Über 6.000 Menschen wurden dort erschossen und verbrannt, vor allem Frauen und Kinder. Doch wer kenne diese Geschichten in Deutschland schon?, fragte Makhotina. Der deutsche Vernichtungskrieg in Osteuropa würde immer noch häufig als "Russlandfeldzug" verstanden, wodurch ein "verzerrtes Bild der Realität" entstehe. So sei Deutschland nicht nur Russland gegenüber in der Pflicht historischer Verantwortung, sondern auch gegenüber den anderen betroffenen Ländern.
Von "Ungerechtigkeit" sprach Makhotina insbesondere gegenüber der Ukraine, denn nicht nur die Erinnerung an die Verbrechen schmerze, sondern auch, dass diese in der deutschen Erinnerungskultur häufig ausgeblendet würden – zumal in so schwierigen Zeiten des russischen Angriffskrieges. Man müsse den Betroffenen "ihr Gesicht wiedergeben", sowjetische Kriegsfriedhöfe besuchen und Schicksale aktiv rekonstruieren, findet sie. Indem man Betroffenen zuhöre, beginne die Empathie. "Denn es ist nicht nur die Erinnerung, die wehtut", sagte Makhotina am Ende ihres Vortrags, "die Gegenwart tut weh."