"Können Leute nicht mehr unterbringen"

Mehr Flüchtlinge als 2015 bringen Sinsheim an "Anschlag"

Die Anzahl übersteigt das Niveau von vor acht Jahren. Die Belegung von Gemeindehallen soll vermieden werden.

27.10.2022 UPDATE: 27.10.2022 06:00 Uhr 4 Minuten, 41 Sekunden
„Zufallsimmobilien“ wie die Sidlerschule haben in Sinsheim die Notlage der vergangenen Monate entzerrt. Foto: Tim Kegel

Von Tim Kegel

Sinsheim. Die Zahl der Menschen, die aus anderen Staaten ins Land, den Kreis und schließlich nach Sinsheim kommen und dort untergebracht werden sollen, liegt deutlich über jener der Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und folgenden. "Wir sind am Anschlag und eigentlich darüber hinaus", heißt es von Oberbürgermeister Jörg Albrecht. "Wir können Leute nicht mehr unterbringen", klagt Karin Blum vom Amt für Gebäudemanagement. Dass bald öffentliche Einrichtungen belegt werden könnten, sei "wahrscheinlicher als nicht". Im Ordnungsamt habe man "zusätzliche Schränke einbauen müssen", um die neu angelegten Akten aufzunehmen, verbildlicht Amtsleiter Florian Zangl die Lage.

Die Unterbringung von Einwanderern ist auch eins der Themen eines Positionspapiers des Gemeindetags – von Insidern "Brandbrief" genannt –, das der Redaktion im Entwurf vorliegt: Darin schreiben Bürger- und Oberbürgermeister im Land, "die Zugangszahlen steigen dramatisch an; nicht nur aus der Ukraine". Auch die Zahl anderer Asylsuchender erreiche "zwischenzeitlich das Niveau von 2015". Haupt-Herkunftsländer der in Baden-Württemberg ankommenden Geflüchteten sind laut Regierungspräsidium Karlsruhe – neben der rechtlich anders eingestuften Ukraine – Syrien mit 31 Prozent, die Türkei mit 24 Prozent, Afghanistan mit zehn Prozent, Nordmazedonien mit neun und Irak mit vier Prozent.

"Sehr dynamisch" nennt auch Landratsamt-Sprecher Ralph Adameit die Lage; konkrete Zugangszahlen, etwa ein Monats-Schnitt, könnten "insbesondere mit Blick auf Zugänge aus der Ukraine" nicht prognostiziert werden. Derzeit sei lediglich bekannt, dass "dem Kreis 118 Asylsuchende im Monat Oktober zugewiesen werden" würden. Nicht eingerechnet: Personen aus der Ukraine "sowie afghanische Ortskräfte".

Ein Vergleich mit dem Jahr 2015 – etwa mit Blick darauf, was heute besser oder schlechter funktioniert – lasse sich laut Adameit kaum ziehen: "Ein unmittelbarer Vergleich der Zugangszahlen" sei nur begrenzt möglich, da 2022 ein großer Teil der Ukrainer "direkt in die Städte und Gemeinden und dort überwiegend in privaten Wohnraum gezogen" sei. 2015 seien die Menschen "zu 100 Prozent" zunächst auf die Unterbringung des Kreises und "in den ein bis zwei Folgejahren" an die Gemeinden verteilt worden. Laut Regierungspräsidium stelle man im gesamten Bundesland "bei den Asylbewerbern sehr hohe Zugänge" fest, während jene ukrainischer Geflüchteter nach Baden-Württemberg "etwas nachlassen" würden, wobei "jederzeit wieder" mit einem Anstieg gerechnet werde.

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Zum Vergleich vor Ort: Bislang galt das Jahr 2017 als jenes der größten Zuteilung in Sinsheim, mit 140 Personen in der Anschlussunterbringung. Von Beginn des Jahres 2022 bis jetzt sind es bereits 404 Personen in Sinsheim mit seinen Ortsteilen sowie weitere 27 Personen in der Verwaltungsgemeinschaft mit Angelbachtal und Zuzenhausen.

Hinzu kommen rund 290 Personen in den Sinsheimer Kreis-Unterkünften, überwiegend im Fohlenweideweg, aber auch in der früheren Deppner-Firmenhalle im Gebiet "Lange Straße", die zwischenzeitlich als Veranstaltungshalle für Hochzeiten umgebaut worden war. Insgesamt waren bis Ende September 1368 Personen in der vorläufigen Unterbringung des Rhein-Neckar-Kreises verzeichnet. Zu Beginn des Jahres hatte der Kreis 648 Personen in diesen Einrichtungen beherbergt.

Deutlich darüber liegen die Zahlen in der städtischen Ausländerbehörde, die in "Fällen" rechnet: Waren zum Jahresbeginn 6000 Fälle in Bearbeitung, seien es aktuell 6760 Fälle, davon 90 in der Verwaltungsgemeinschaft. Eine "massive Mehrbelastung" fürs Personal sei dies, sagt Zangl, die man ohne Personalaufstockung, "mit vielen Überstunden" und nur aufgrund eines guten Klimas in der Behörde überhaupt leisten könne. Die Situation drohe, sich negativ auf die Bearbeitungszeiten in anderen städtischen Ämtern auszuwirken.

Das alles hat Auswirkungen auf die ohnehin stark angespannte Wohnsituation im Stadtgebiet. Karin Blum spricht von 848 Menschen, die seit dem Jahr 2015 in Sinsheim untergebracht werden mussten; die 404 Personen von Anfang des Jahres bis jetzt entsprächen daher fast der Hälfte der Unterbringungen der vergangenen Jahre. Und: "Wir rechnen mit ähnlich hohen Zahlen im kommenden Jahr", schätzt Blum. Schon jetzt liege man "leicht über der Quote" an Unterbringungen, die Sinsheim aufgrund seiner Bevölkerungszahl erbringen soll. Im Rathaus geht man davon aus, dass diese Quote "in diesem Jahr noch einmal erhöht wird", sagt Oberbürgermeister Albrecht. Die in den Gemeinschaftsunterkünften des Kreises untergebrachten Personen werden zumindest im Moment – obwohl diese "im städtischen Leben präsent" seien – nicht auf die Quote angerechnet; es gebe allerdings Gespräche darüber.

"Wir müssen Wohnraum anmieten", sagt Albrecht. Zurzeit habe man ein Auge "auf jede Zwangsversteigerung"; erst kürzlich sei in Eschelbach ein Gebäude, das eigentlich zum Verkauf gestanden habe, "reaktiviert worden"; ein größeres Haus im Stadtteil Reihen könne man künftig "noch belegen". Dass die Entwicklung in Sinsheim zunächst "nicht noch härter aufgeschlagen ist", liege an vorhandenen "Zufallsimmobilien", wie dem Haus Sidlerschule oder einem Villen-Anwesen in der Neulandstraße, in denen insgesamt rund 90 Personen übergangsweise unterkommen können. Aufgrund städtebaulicher Planungen von der Stadt gekauft, ist diesen Immobilien mittelfristig jedoch eine andere Zukunft zugedacht, beziehungsweise deren Abriss. Sowieso wäre die Lage ohne private Initiativen noch verfahrener, glaubt Albrecht: Von den 431 Geflüchteten in der Anschlussunterbringung im Zuständigkeitsbereich von Sinsheim waren zuletzt 82 in städtischen, der Rest in privaten Wohnungen untergebracht.

Doch auch eine andere Erfahrung habe man gemacht, sagt Albrecht: "Es ist Wohnraum zutage getreten, den wir nicht kannten." Mitten in der Wohnungskrise seien reichlich private Unterkünfte "reaktiviert worden" – aus spontaner Hilfsbereitschaft, nicht zuletzt wohl aber auch aufgrund der Aussicht auf verlässliche, von staatlichen Institutionen bezahlte Mieteinnahmen. "Eine riesige Hilfe" der Beschaffung von Wohnraum sei die Ukrainehilfe Sinsheim gewesen.

Eine Trendwende zeichne sich inzwischen allerdings ab: Habe man zu Beginn des Ukraine-Kriegs noch zahlreiche Angebote privater Vermieter erhalten, so seien dies inzwischen "sehr wenige", schildert Blum, "sowie leider auch nicht unter dem Begriff bezahlbar". Es sei, sagt Albrecht, "bei einigen Vermietern über die Monate auch eine gewisse Ernüchterung" eingetreten.

Die Frage, ob es ein Maximum möglicher Unterbringungen gibt, wird von den Behörden ausweichend beantwortet: "Kreis und Kommunen sind gehalten, weitere Unterbringungskapazitäten zu schaffen", lässt Adameit wissen; auch Albrecht spricht vom Aufbau von Kapazitäten, "um unsere Pflichten zu erfüllen", aber auch von schwierigen Voraussetzungen, "vom Grundstück über die Verfügbarkeit von Baustoffen bis zur Finanzierung". Der sogenannte "Rechtskreiswechsel", der ukrainischen Flüchtlingen den Wechsel vom Asylbewerberleistungsgesetz in die Grundsicherung und damit Zugang zum geplanten Bürgergeld ermöglicht, sorge nach Albrechts Erleben "durchaus für einen Pull-Effekt", sagt er auf Nachfrage.

Zur Entzerrung der Lage die Dorfhallen zu belegen, ist für Albrecht "aktuell kein Thema". Zu stark hätten die Vereine und die Dorfgemeinschaften schon unter den Corona-Verordnungen leiden müssen, zumal dort "kein menschenwürdiges Leben möglich" sei. Doch im Rathaus gäben sich jetzt schon "die Krisenstäbe die Klinke in die Hand", etwa zur Energie- und auch zur Zuwanderung. Albrecht, der das Thema auch in einer Rede beim "Sinsheimer Herbst" ansprach, macht keinen Hehl daraus, dass die Entwicklung "durchaus gesellschaftlichen Zündstoff" biete. Derzeit zahle man bei der Stadt zur Anschlussunterbringung von Flüchtlingen bereits "den üblichen Wohnraumpreis", jedoch "keine unmenschlichen Angebote" wie "Zimmermieten von 500 Euro", die es auch gebe.

Doch was, wenn keine Angebote mehr eingehen würden; wenn die Stadt selbst gezwungen wäre, Wohnraum zu schaffen und es zeitgleich zu Handwerkermangel und Materialengpässen kommen würde? Dies alles sei möglich. Dass dann "ein Bus mit Geflüchteten, die schlicht und einfach unterzubringen sind, eines Tages vor dem Rathaus steht" – diesen "Worst Case" gelte es "als guter Partner" der Kreisverwaltung zu verhindern, sagt Albrecht. Wie allerdings? Dies dürfte von Monat zu Monat schwieriger werden.

Die Ankündigung von Innenministerin Nancy Faeser, 56 Bundesgebäude in Baden-Württemberg, Bayern, Thüringen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Brandenburg kurz- und mittelfristig für rund 4000 Geflüchtete zur Verfügung zu stellen sowie ein Förderprogramm der Landesregierung für die Schaffung von Wohnraum für Geflüchtete in Höhe von 80 Millionen Euro nennt Albrecht "gelinde gesagt einen Tropfen auf den heißen Stein".

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