Sandhausen

Familie mitten in der Nacht in fremdes Land abgeschoben

2012 waren sie nach Deutschland geflohen, vor einem Jahr wurden sie wieder abgeschoben. Drei der vier Kinder sind hier geboren. Die Helfer hoffen auf eine Rückkehr.

24.06.2022 UPDATE: 25.06.2022 17:40 Uhr 2 Minuten, 28 Sekunden
Die Familie Aliazov lebte fast zehn Jahre lang in Deutschland – und hofft weiterhin auf eine Zukunft in Sandhausen. Foto: privat

Von Lukas Werthenbach

Sandhausen/Tiflis. Es ist eine dieser Abschiebungen, die nicht nur bei den mit dem Fall betrauten ehrenamtlichen Helfern für Kopfschütteln sorgen: Die Familie Aliazov lebte fast zehn Jahre lang in Deutschland, drei ihrer vier Kinder wurden hier geboren. Geflüchtet waren die Eltern Ramaz und Inga 2012 mit ihrem damals einzigen Kind aus Georgien: Als jesidische Kurden hatten sie in ihrer Heimat Verfolgung und Unterdrückung erlebt.

Doch in einer Nacht vor knapp einem Jahr stand die Polizei plötzlich in der Sandhäuser Wohnung, um die Abschiebung der sechsköpfigen Familie zu "vollziehen". Der Ökumenische Helferkreis hält weiterhin Kontakt zu ihnen nach Tiflis und unterstützt sie mit Geld. Die Hoffnung auf eine Rückkehr hat man hier noch nicht aufgegeben.

Hintergrund

> Jesiden sind eine ethnisch-religiöse Gruppe, die ursprünglich aus dem nördlichen Irak, aus Nordsyrien und der südöstlichen Türkei stammt. Allgemein werden Jesiden aufgrund ihrer Sprache und Kultur überwiegend den Kurden zugeordnet. Auch die Mehrheit der Jesiden definiert

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> Jesiden sind eine ethnisch-religiöse Gruppe, die ursprünglich aus dem nördlichen Irak, aus Nordsyrien und der südöstlichen Türkei stammt. Allgemein werden Jesiden aufgrund ihrer Sprache und Kultur überwiegend den Kurden zugeordnet. Auch die Mehrheit der Jesiden definiert sich ethnisch als Kurden. Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion lebten rund 22.000 Jesiden in Georgien; zwischen 1989 und 1997 ging diese Zahl auf 1200 zurück, weil die meisten von ihnen flüchteten. Jesiden sind in Georgien weder in Parlament noch in der Regierung vertreten. Sie beklagen etwa Übergriffe durch Polizisten und Beamte, Körperverletzungen und Falschanschuldigungen. Laut der "Gesellschaft für bedrohte Völker" mit Sitz in Göttingen haben Jesiden in Georgien keine Chance auf höhere Posten und Gleichbehandlung bei der Verwaltung und medizinischen Versorgung. Zudem gibt es keinen Zugang zu höherer Bildung. luw

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Die Hoffnung bestehe zwar, sagt Volker Frank vom Sandhäuser Helferkreis im RNZ-Gespräch. Zugleich macht er keinen Hehl aus seiner Verzweiflung: "Der Familie geht es dreckig – und ich bin furchtbar deprimiert." Gerade erst habe der 77-Jährige rund 1500 Euro an die Aliazovs nach Tiflis überwiesen; der Betrag sei unter anderem durch Spenden zusammengekommen.

Besonders treiben Volker Frank und die Ehrenamtlichen die Umstände um, unter denen es zu dieser Abschiebung kam. So sind sie etwa davon überzeugt, dass die Familie noch hier leben könnte, wenn sie von Anfang an juristisch korrekt beraten worden wäre. Zumal die achtjährige Anna schwerbehindert ist und man deswegen einen sogenannten Härtefallantrag hätte stellen können, der die Abschiebung wohl verhindert hätte. "Aber die Familie kannte nicht alle ihre Rechte", fasst Volker Frank bedrückt zusammen. Zudem hadert er mit den deutschen Behörden, vonseiten derer es "keine umfassende Betreuung und Beratung" für die Familie gegeben habe.

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Die drei in Deutschland geborenen Kinder – heute zwischen fünf und acht Jahre alt – hätten nie einen deutschen Pass gehabt: "Die Kinder waren ihr Leben lang Asylbewerber", so Volker Frank. Doch der Asylantrag wurde abgelehnt, auch der Status der "Duldung" wurde der Familie gerichtlich verwehrt. Und weil die Bundesregierung Georgien als "sicheres Herkunftsland" einstuft, kam es zur Abschiebung. "Wie sicher das Land ist, sehen wir ja gerade", sagt Volker Frank nicht ohne Sarkasmus, der vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs auch einen russischen Einmarsch in Georgien befürchtet.

Dabei bezeichnen er und andere Ehrenamtliche insbesondere die Kinder als "super integriert": Alle vier sprechen ausschließlich Deutsch, zu ihrer vermeintlichen "Heimat" Georgien haben sie quasi keinen Bezug. Die 29-jährige Mutter Inga habe über zwei Jahre lang als Alltagshilfe für eine im Rollstuhl sitzende Frau gearbeitet und ihr Deutsch stetig verbessert.

Der 34-jährige Vater Ramaz habe es derweil etwas schwerer gehabt, lange war er ohne Arbeitserlaubnis. Doch mit Minijobs habe er immer wieder etwas Geld verdient, mit der Zeit sei er "aufgeblüht". Nach einem erfolgreichen Praktikum als Bodenverleger bekam er eine Festanstellung, sein Arbeitgeber sei "mehr als zufrieden" gewesen. Die heute siebenjährige Tochter Elena freute sich unterdessen auf ihre im Herbst 2021 anstehende Einschulung – doch dann kam die Abschiebung.

In Tiflis lebt die Familie bei einer Verwandten. "Die Kinder sind traumatisiert, in einem für sie fremden Land, der Sprache nicht mächtig", so Volker Frank. Hinzu komme die Zugehörigkeit zur Minderheit der jesidischen Kurden, der nach seinen Worten "am stärksten diskriminierten Gruppe in der georgischen Gesellschaft". Ramaz habe dies vor der Flucht 2012 am eigenen Leib erfahren: "Er wurde auf der Straße einfach angepöbelt und geschlagen." Zudem könne Anna, für die in Deutschland unter anderem eine "massive Entwicklungsverzögerung" samt "bleibender schwerer Behinderung" diagnostiziert wurde, in Georgien nicht annähernd die Therapie erhalten, die sie benötige.

Ramaz Aliazov arbeitet auch in Tiflis als Fliesenleger. Dessen Frau Inga habe er geraten, sich für eine Ausbildung bei der dortigen Caritas als Krankenpflegerin zu bewerben, sagt Volker Frank: "Dann könnte sie per Arbeitsvisum hier arbeiten." Doch die Corona-Pandemie und die Aufgabe, für vier Kinder zu sorgen, habe dem Vorhaben bisher im Wege gestanden. "Aber vielleicht versuchen sie es ja auch noch mal mit einer Flucht...", sagt er: Den Kontakt zur Familie will er jedenfalls weiter halten.

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