Statt Abriss ziehen Ukrainer in Klinik ein
Der Investor plante zugunsten der Familien seiner Bauarbeiter um. Ehrenamtliche richteten die Zimmer ein, in denen Platz für bis zu 70 Menschen ist.

Von Lukas Werthenbach
Heiligkreuzsteinach. Ukrainische Bauarbeiter im Odenwald mit Familien in der Heimat, eine dem Abriss geweihte frühere Suchtklinik, ein Investor mit Herz – dazu viel ehrenamtliches Engagement und Gemeinschaftssinn: Das sind die "Zutaten" eine dieser Geschichten, die Hoffnung spenden in Zeiten des Kriegs. Im Heiligkreuzsteinacher Ortsteil Eiterbach kommen gerade täglich Flüchtlinge aus der Ukraine an. In weniger als zwei Wochen richteten rund 50 Ehrenamtliche mit Unterstützung mehrerer Firmen die seit über zwei Jahren leer stehende Klinik in der Ortsstraße her, um vor allem Frauen und Kindern eine Unterkunft zu bieten. Für bis zu 70 Menschen ist hier Platz.
"Jetzt gerade in diesem Moment kommen sechs Ukrainerinnen hier an", sagt Bürgermeisterin Sieglinde Pfahl gegen Ende des Telefonats mit der RNZ. "Herzlich Willkommen", ruft sie fröhlich, wie durch das Handy zu hören ist. Pfahl ist begeistert von der Hilfsbereitschaft und dem Tatendrang, den sie in den vergangenen Tagen nicht nur seitens der Bevölkerung in ihrem Ort erlebt hat. "Auch aus anderen Gemeinden in der Region kamen Ehrenamtliche und Firmen und haben sich hier eingebracht", erzählt sie.
Aber der Reihe nach. In direkter Nachbarschaft der seit 2019 geschlossenen Klinik für Suchtkranke wird seit etwa einem Jahr gebaut: Das einstige Michelin-Restaurant "Goldener Pflug" wurde bekanntlich abgerissen, ein Investor kam und ist gerade dabei, das Quartier in ein kleines Wohngebiet umzuwandeln. Neun Wohneinheiten, bestehend aus Einfamilienhäusern und Doppelhaushälften, sollen hier entstehen.

Darüber informierte Peter Ujjobbagy, der auch beim Telefonat der RNZ mit Pfahl dabei war: Er ist Geschäftsführer der Firma Jägu Wohnbau aus dem nordrhein-westfälischen Waltrup, die hier im Einsatz ist. "Diese Firma ist seither mit zehn bis zwölf ukrainischen Bauarbeitern vor Ort", erklärt die Rathauschefin. Die von einem Subunternehmen vermittelten Arbeiter seien in Privatwohnungen in Schriesheim untergebracht und bisher stets mit einem Visum für 90 Tage hierher gekommen. "Nach den drei Monaten ging es wieder etwa für einen Monat in die Heimat", erklärt Ujjobbagy.
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Im Spätjahr 2021 hatte der Geschäftsführer dann die Idee, auch die zuvor dem Arbeiterwohlfahrt-Kreisverband Mannheim gehörende Fachklinik zu kaufen – den Preis will er nicht verraten. Dieses Gebäude wollte er ebenfalls abreißen und Wohnraum von ähnlicher Größe wie nebenan beim "Goldenen Pflug" schaffen. "Aber dann kam der Krieg", so Pfahl.
Die von der Firma eingesetzten Bauarbeiter seien logischerweise "sehr unruhig" geworden, schließlich sahen sie plötzlich ihre Familien bedroht. "Die meisten Angehörigen leben in der West-Ukraine, wo sie bisher zum Glück noch nicht viel vom Krieg mitbekommen haben", weiß Ujjobbagy, "aber einige kommen auch aus dem mittleren Teil des Landes". Weniger als eine Woche nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine entschied der Geschäftsführer, den Abriss der Klinik zurückzustellen und sie zur Unterkunft für die Familien der Arbeiter umzugestalten. Im Rathaus rannte er offene Türen mit der Idee ein, gleich gründete sich eine "Task Force" mit Ehrenamtlichen. Die Gemeinde half mit Spendenaufrufen und der Koordination von Hilfsangeboten.

"Es ist so toll, was hier in kürzester Zeit zusammengewachsen und entstanden ist", schwärmt Pfahl. Die ukrainischen Bauarbeiter selbst strichen die Räume der Klinik, in der früher rund 40 Menschen meist in Einzelzimmern untergebracht waren. Bürger spendeten Elektrogeräte, Möbel: "...eben alles, was man so braucht, wenn man nur mit einem Koffer von daheim flüchtet", so Pfahl. Sie freut sich auch über die unkomplizierte Hilfe von Firmen, die etwa mit der Bereitstellung von W-Lan- und Satellitenanschlüssen halfen. "Auch die Gemeinschaftsräume wurden wunderschön gestaltet", erzählt sie. Es gebe ein liebevoll eingerichtetes Spielzimmer, in der Küche stünden nun fünf Herde nebeneinander und im Keller sei ein Waschraum mit zahlreichen Waschmaschinen entstanden. "Keiner war sich zu schade, mit anzupacken", lobt Pfahl. Doch nicht nur gespendet, geschleppt und aufgebaut wurde von den Bürgern: "Es gibt auch sehr viele russischstämmige Mitbürger, die momentan bei der Kommunikation mit den Ukrainern behilflich sind."
Übrigens gab es auch schon eine Spendenaktion für daheimgebliebene Ukrainer, für die sich unter anderem der evangelische Pfarrer Steffen Banhardt eingesetzt habe: "Wir haben medizinische Produkte bei Apotheken für fast 900 Euro gesammelt und die in die Ukraine an die Front geschickt", so die Rathauschefin. Zusätzlich sei Geld für den Unterhalt der Fachklinik gesammelt worden, wo etwa angesichts einer Ölheizung und "riesigen Räumen" einiges an Energiekosten zu stemmen sein werde.
Ungeachtet der Aktion in der Klinik zeigt sich Pfahl auch dankbar für die vielen Angebote für die Unterbringung von Flüchtlingen in Privatwohnungen der Bürger. "Darauf werden wir bei Bedarf natürlich auch zurückkommen", sagt sie.
Hintergrund
> Kleidung, Möbel, Elektrogeräte, Spielzeug: Das Nötigste für die Familien der ukrainischen Bauarbeiter steht in der früheren Fachklinik schon bereit. Derweil sind zwischenzeitlich neben einigen
> Kleidung, Möbel, Elektrogeräte, Spielzeug: Das Nötigste für die Familien der ukrainischen Bauarbeiter steht in der früheren Fachklinik schon bereit. Derweil sind zwischenzeitlich neben einigen Kindergartenkindern auch schon ukrainische Schüler in Eiterbach angekommen. Einige hatten nun ihren ersten Schultag im Odenwald, wie Bürgermeisterin Sieglinde Pfahl und Pfarrer Steffen Banhardt im Gespräch mit der RNZ erzählten.
> Bisher gehe es vor allem um die Unterbringung von ukrainischen Grundschülern, so Pfahl. "Unsere Rektorin hat schon ganz viele Kopien für die Kinder gemacht." Man habe sich darauf eingestellt, dass man "bald viel mehr Kinder in der Grundschule" habe. Und die heimischen Kinder hätten bereits Überraschungen gestaltet, um ihre neuen Mitschüler willkommen zu heißen.
> Pfarrer Banhardt, der auch Religion unterrichtet, war beim ersten Schultag einiger Ukrainer dabei. "Die Kommunikation funktioniert schon erstaunlich gut", stellte er fest. Das liege zum einen daran, dass zwei Schüler zweisprachig mit Russisch und Deutsch aufgewachsen seien: Sie hätten bereits als Dolmetscher geholfen. Zum anderen werde viel mit "Übersetzungs-Apps" auf Smartphones gearbeitet.
> Berührungsängste seien bisher jedenfalls nicht zu beobachten: "Da gibt es keine Hemmungen zwischen deutschen und ukrainischen Kindern", freut sich Bürgermeisterin Pfahl. (luw)