Kindergärten können die Probleme nicht mehr alleine stemmen
Krisengespräch zur Kinderbetreuung: Der Druck auf Kindergärten ist nicht mehr tragbar. Fachleute fordern, die Familie zu stärken.

Von Ann-Kathrin Frei
Neckar-Odenwald-Kreis. Ernste Mienen beim Krisengespräch: "Wir haben zu lange geschwiegen und möchten nun offen darüber reden", so beginnt das Gespräch mit Leiterinnen von evangelischen Kindergärten aus der Region, des Evangelischen Verwaltungs- und Serviceamts (VSA) Odenwald-Tauber sowie Fachberatern aus dem Neckar-Odenwald-Kreis. Sie machen deutlich: So, wie es jetzt gerade ist, darf es nicht bleiben. Der Druck, der auf den Schultern der Erzieherinnen und Erzieher lastet, ist nicht mehr tragbar.
"Die Gesellschaft hat sich enorm verändert", erklärt Kerstin Fix, Leiterin des evangelischen Kindergartens in Diedesheim, die gestiegenen Anforderungen an Erzieherinnen und Erzieher. "Und mit der Gesellschaft dann auch die Familie und die Kinder. Diese Veränderungen kommen erstmals in einer Kita zum Tragen."
Kinder seien öfter verhaltensauffällig; die Anzahl der Kinder, die therapeutische Unterstützung brauchen, steigt. Viel wichtiger dabei aber ist – und das fasst Erika Friedel, Verwaltungsgeschäftsführerin für Kindertagesstätten beim Verwaltungs- und Serviceamt, passend zusammen: "Nicht die Kinder sind das Problem, sondern die Gesellschaft."
Erzieher werden zur zweiten Mama
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"Früher stand das Kind im Mittelpunkt des Alltags. Das hat sich grundlegend geändert; jetzt geht es darum, erst mal herauszufinden, wo das Kind überhaupt steht. Sie müssen heute Dinge gezeigt bekommen, die sie früher schon konnten", pflichtet Dagmar Brettel, Leiterin des evangelischen Kindergartens in Hüffenhardt und Kälbertshausen, bei. Immer mehr Eltern seien zudem früher berufstätig. "Das merkt man an der Bindung zur Familie. Diese Bindung fehlt teilweise. Dann besteht unsere Aufgabe darin, viel mit Bindung zu arbeiten", so Brettel.
Patrick Davis, Abteilungsleiter der Stadt Mosbach für Bildung und Generationen, betont: "Die Eltern suchen so früh einen Platz, weil sie Geld verdienen müssen. Das verschärft die Situation." Sandra Kretz, Leiterin des evangelischen Kindergartens Neckarzimmern, ergänzt: "Die Erzieher werden zur zweiten Mama, der Erziehungsauftrag wandert von den Eltern zu den Erzieherinnen und Erziehern." Auch wenn die Anzahl der Kinder in den Gruppen gleichgeblieben ist, haben sich die Anforderungen verändert. Kretz: "In einer Gruppe sind jetzt zwei bis drei Kinder, die zusätzlichen Förder- und Unterstützungsbedarf haben. Das war früher nicht der Fall." Um es zu verkürzen: Die Anforderungen wachsen, aber die Zahl der Betreuenden hält nicht Schritt.
Kinder wollen mitbestimmen
Kerstin Fix berichtet aus dem Alltag in einer Einrichtung: "Die Kinder kommen in immer jüngerem Alter zu uns. Viele von ihnen müssen noch gewickelt werden. Das Wickeln bietet dann für die Kinder die Möglichkeit einer Eins-zu-eins-Beziehung mit dem Erzieher. Weil das aber so selten geworden und im Alltag kaum umsetzbar ist, merken wir, dass sich die Kinder noch lange wickeln lassen. Sie merken, dass es sich lohnt. Es ist die einzige Zeit, in der sie den Betreuer für sich alleine haben."
Eine Veränderung des Erziehungsansatzes sei ebenfalls ausschlaggebend. "Die Partizipation der Kinder steigt", erklärt etwa Dagmar Brettel. "Wir wollen die Kinder in Entscheidungsprozesse einbeziehen und nicht einfach nur über sie bestimmen." Kinder lernten so, Entscheidungen zu beeinflussen, bilden ihren eigenen Willen und ihre eigene Meinung. "Das verwirrt Familien manchmal", erklärt Erika Friedel. "Hier müssen die Pädagogen dann wieder eingreifen. Sie müssen zeigen, wo die Grenzen der Partizipation liegen, die Eltern sind verunsichert und brauchen Erziehungsberatung."
Erzieher stark belastet
Schwer wird es auch, wenn Sprachverständnis und Wortschatz sinken. "Die Kinder können sich nicht ausdrücken und haben Probleme, uns zu verstehen. In der pädagogischen Arbeit haben wir aber selten die Zeit, so gezielt auf die Kinder und die Eltern einzugehen, obwohl wir das eigentlich wollen. Alles, was wir machen können, ist zu versuchen, die Brände zu löschen", zeigt sich Kerstin Fix besorgt. Diese Situation empfindet sie als belastend: "Wir schlafen schlecht, weil wir unserem Auftrag nicht gerecht werden können, obwohl wir es doch wollen", pflichtet Corinna Fritz (evangelischer Kindergarten Neckargerach) bei.
Der Fachkräftemangel trägt seinen Teil zum Problem bei. Damit aber das noch vorhandene Personal bleibt, brauche es mehr als nicht-pädagogische Fachkräfte. "Das Elternwissen der ungelernten Aushilfen unterscheidet sich vom Erzieherwissen. Das kann daher keine dauerhafte Lösung sein, sondern muss kurzfristig herangezogen werden", so Erika Friedel. Um das Personal zu sichern, müsse man dicht an den Erziehern sein, mitfühlen, Gespräche führen. Sabrina Franke, die Fachberaterin für kommunale und private Kindertageseinrichtungen im Kreis, warnt: "Die Belastungssituation der pädagogischen Fachkräfte ist enorm. Sie darf aber zu keiner Zeit die Arbeit mit den Kindern beeinträchtigen."
Bund in der Pflicht
Judith Teller, Fachberaterin für Kindertagesstätten des VSA in Buchen, erklärt die Folgen der gesellschaftlichen Veränderungen. "Den Kindern fehlt die Bindungssicherheit. Dadurch verändert sich das Verhalten. Viele Kinder brauchen dann Unterstützung von außen – durch Therapien oder Ärzte."
Und wer kann nun Abhilfe schaffen? Corinna Fritz sieht klar die Verantwortung beim Bund. "Bildung ist keine kommunale Aufgabe. Viele Gemeinden können die Probleme nicht alleine stemmen. Das fängt schon beim Geld an. Der Bund muss sich starkmachen – für uns und vor allem für die Kinder." Der Hüffenhardter Pfarrer Fritjof Ziegler fordert in diesem Zusammenhang mehr Vernetzung, mehr Flankierung und ein "engagiertes Gespräch in der Öffentlichkeit und Politik, was wir uns vom gesellschaftlichen Umfeld für Kinder und Familie erwarten".
Fritz zufolge könne es bereits helfen, wenn Erzieherinnen und Erzieher von hauswirtschaftlichen Tätigkeiten entlastet würden und diese an nicht-pädagogische Fachkräfte abgegeben werden könnten. Denn die Realität ist: Pädagogische Fachkräfte putzen Gruppenräume, Regale und vieles mehr. Noch besser wäre es natürlich, zusätzliche Stellen zu schaffen.
Ein Neuanfang für alle
Jeder Träger koche sein eigenes Süppchen, erklärt Davis. "Wir brauchen mehr interkommunale Zusammenarbeit. Viele Kommunen hängen noch hinterher; deshalb müssen wir eng zusammenarbeiten." Doch nicht alle Lösungen liegen in weiter Ferne. So hat Erika Friedel einen konkreten Rat an alle Eltern: "Genießen Sie die Zeit mit Kindern, lassen Sie die Kinder Kinder sein." Sie ist überzeugt: "Es geht um nichts weniger als einen kompletten Neuanfang!" Die Familien müssten gestärkt werden. "Die Kita wird und soll nicht alles auffangen. Sie muss ein Begleiter sein, ein Unterstützungssystem", so Friedel. Ein gutes Schlusswort findet Kerstin Fix: "Wir waren die Möglichmacher. Aber es geht nicht mehr. Wir können es nicht mehr möglich machen. Die Grenzen sind erreicht."