Kretschmann skeptisch zu Brandbrief (Update)
Der Ministerpräsident ist aber offen für konkrete Vorschläge.

Stuttgart. (dpa) Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat zurückhaltend auf den Brandbrief von Kommunen und Wirtschaft (PDF) in Sachen Abbau von Bürokratie und staatlichen Vorgaben reagiert. "Die Landesregierung teilt das Anliegen des Briefes bürokratische Hemmnisse abzubauen", teilte der Grünen-Politiker am Freitag mit.
Jedoch richteten sich die Forderungen aus dem Brief nicht nur an das Land, sondern an alle staatlichen Ebenen, auch an die Kommunen selbst, und insbesondere an den Bund und die EU. "Deshalb müssen wir alle staatlichen Ebenen für dieses Projekt gewinnen, sonst wird es nicht im gewünschten Maße vorankommen."
Wie das gelingen könne, "darüber tausche ich mich sehr gerne mit den Initiatoren aus", erklärte Kretschmann. Den Vorschlag von Kommunen und Wirtschaft für einen "Zukunftskonvent" nahm er nicht auf. Stattdessen sagte er: "An einem Format, das dafür geeignet ist, arbeiten wir noch." Zudem sei das Land "immer offen für konkrete Vorschläge, wie wir Verfahren vereinfachen und Bürokratie abbauen können".
Ein breites Bündnis aus Kommunen und Wirtschaft hatte Kretschmann aufgefordert, einen "Zukunftskonvent" einzuberufen, "um einen Wandel hin zu einem modernen Zukunftsstaat mit verlässlichen und umsetzbaren Zusagen" anzustoßen. Die "Zeitenwende" im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zwinge das Land dazu, neu zu bestimmen, was vorrangig ist und noch finanziert werden kann.
Update: Freitag, 28. Oktober 2022, 14.30 Uhr
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40 Bürgermeister mit Brandbrief an Scholz und Kretschmann
Von Alexander Albrecht
Rhein-Neckar. Schon seit Jahren ächzen die Kommunen unter den wachsenden Aufgaben, die ihnen Bund und Land aufbrummen, und fühlen sich von der "großen Politik" bevormundet. Jetzt habe der berühmte Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht, heißt es in einem vom Ilvesheimer Bürgermeister und Gemeindetags-Kreisverbandschef Andreas Metz verfassten "Brandbrief", den bereits rund 40 Rathauschefs im Rhein-Neckar-Kreis und Landrat Stefan Dallinger unterschrieben haben.
Das Schreiben soll Anfang nächster Woche an Bundeskanzler Olaf Scholz, Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Minister und Abgeordnete gehen. Und dann als "offener Brief" auch die breite Öffentlichkeit erreichen.
Landes- und vor allem Bundespolitikern fehle es offensichtlich an Erfahrungen in der Verwaltungsarbeit und der Kommunalpolitik, die "Bodenhaftung" sei verloren gegangen, schimpfen Metz und seine Mitstreiter. Aktuelles Beispiel: die "dürftigen Ergebnisse" des letzten Flüchtlingsgipfels.
Ein weiteres Mal sei deutlich geworden, dass gravierende Probleme einfach auf die unteren Verwaltungsebenen wegdelegiert würden. "Für die menschenwürdige Unterbringung zusätzlicher Geflüchteter ist in unseren Städten und Gemeinden einfach kein Platz mehr da; bezahlbarer Wohnraum fehlt ja heute schon überall", heißt es im "Brandbrief". Den Kommunen stünden keine geeigneten Instrumente zur Verfügung, um die Wohnungsnot zu lindern.
Sämtliche bisher aufgelegten Programme seien hilflose Versuche, die von vorneherein zum Scheitern verurteilt waren, und auch Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) müsse zugeben, ihre Zielvorgaben für neue Wohnungen auch in diesem Jahr wieder zu verfehlen. Metz sagte der RNZ, seine Gemeinde bringe gegenwärtig noch circa 100 Menschen aus der Flüchtlingskrise 2015/16 unter. "In diesem Jahr haben wir 70 Ukrainer aufgenommen, 2023 sollen weitere kommen." Damit stoße Ilvesheim an seine Grenzen.
Es geht den Unterzeichnern aber bei Weitem nicht nur um die Unterbringung von Geflüchteten und – ganz allgemein – weniger ums Geld. Nach den zahlreichen Krisen der vergangenen Jahre "sind unsere Mitarbeiter schlicht am Ende ihrer Kräfte".
Darüber hinaus würde den Kommunen auch noch auferlegt, die gesamte Infrastruktur des Landes umbauen. "Wir sollen vor Ort die Energie- und die Mobilitätswende bewältigen, die Digitalisierung beschleunigen, das Klima und nebenbei auch noch die Demokratie retten", so Metz und Co.
Die Mitarbeiter sollten das Informationsfreiheitsgesetz umsetzen und gleichzeitig den Datenschutz beachten. Und die Kommunen seien gezwungen, unzählige Statistiken auszufüllen, Biotopverbund- und Wärmenetzplanungen zu erstellen.
Und noch eines ärgere die Unterzeichner: Statt Städte und Gemeinden finanziell besser auszustatten, müssten sie sich im komplizierten Förderdschungel um Zuschüsse bewerben. "Das ist Bürokratie pur", brummte Metz im RNZ-Gespräch. Häufig müssten die Kommunen für die Förderanträge externe Büros beauftragen, was wiederum Geld koste.
Quälend lange Genehmigungsverfahren bremsten die Verwaltungen weiter aus. So hat es laut Metz sechs Jahre gedauert, bis in Ilvesheim der Bau von drei Häusern zur Flüchtlingsunterbringung in trockenen Tüchern waren. Bürokratie und Einwände von Anwohnern hatten den Prozess verzögert.
"Es ist nicht die Frage, ob die Kommunen bereit sind, die ihnen gestellten Aufgaben zu erfüllen", heißt es in dem Brief weiter, "sie sind schlichtweg nicht mehr dazu in der Lage". Wer dies verkenne und immer weiter Hoffnungen und Erwartungen in der Bevölkerung schüre, leiste einer gefährlichen Entwicklung Vorschub: Der Staat – und dieser wird in erster Linie vor Ort in den Kommunen erlebt – werde zunehmend als nicht mehr funktionsfähig wahrgenommen.
Die Unterzeichner fordern daher eine kritische Überprüfung der an sie gestellten Aufgaben, einen Dialog "auf Augenhöhe", die Entbürokratisierung von Verfahren und ganz konkret die Aussetzung der Einführung des Rechtsanspruchs auf Ganztagesbetreuung in der Grundschule ab 2026. "Dafür haben wir kein Personal", stellte Metz klar.