Muslimin empfindet Folgen des Attentats als zweiten 11. September
Die Stadt hält zusammen: 8000 Menschen kommen zu einer Kundgebung nach dem Angriff auf dem Marktplatz.

Von Alexander Albrecht
Mannheim. Selten haben sich so viele Menschen auf dem Mannheimer Marktplatz versammelt, und wohl noch nie war es dort so leise wie am Montagabend kurz nach 17 Uhr. Viele der 8000 Teilnehmer einer Kundgebung mit Friedensgebet sind tief bewegt und wischen sich die Tränen aus den Augen.
Oberbürgermeister Christian Specht (CDU) findet die richtigen Worte, gibt Trauer, Fassungslosigkeit und Entsetzen über die hinterhältige Messerattacke Gesicht und Stimme. Aber er sendet auch Botschaften der Hoffnung und der Zuversicht aus. Immer wieder wird seine Rede von viel Beifall unterbrochen.

Der heimtückische Mord an dem Polizisten zeige auf schreckliche Art und Weise, wozu Hass und Hetze führten. In Zeiten wachsender Respektlosigkeit und Aggressivität gegenüber den Beamten, Feuerwehrleuten und Rettungskräften nimmt Specht den Tod des 29-Jährigen zum Anlass, dafür zu werben, den Helfern und Lebensrettern "die Wertschätzung und Dankbarkeit entgegenzubringen, die sie verdienen".
Polizisten, Ersthelfer und Notfallseelsorger hätten am Freitag Bilder sehen müssen, die ihnen nicht mehr aus dem Kopf gingen. "Das Ereignis bleibt als Narbe auf der Seele zurück."
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Was Stadt und Gesellschaft so verstöre und empöre: der "Missbrauch unserer Humanität" durch den Täter. Ein Mann von 25 Jahren, geboren in Afghanistan, der seit 2014 in Deutschland lebt und hier den Schutz und die Freiheitsrechte genieße, die ihm sein Heimatland nicht gewähren konnte. Dieser Mann habe sich entschlossen, im Herzen Mannheims hinterrücks Menschen anzugreifen, deren Meinung er nicht akzeptiere.
Er werde sich vor einem Gericht verantworten müssen, "und ich hoffe auf eine harte und angemessene Strafe", betont Specht. Mit Blick auf den vermutlich extremistischen Hintergrund des Attentäters fordert der OB die "große Politik" dazu auf: "Es muss künftig auch möglich sein, dass Personen ein Aufenthaltstitel versagt wird, wenn sie einen islamistischen Gottesstaat fordern."
Nancy Faeser (SPD) hört den Satz. Die Bundesinnenministerin ist nach Mannheim gereist, geht auf Krücken, hält aber keine Ansprache. Das überlässt sie ihrem baden-württembergischen Amtskollegen Thomas Strobl (CDU). Zuvor beschwört Specht den "über Jahrzehnte erarbeiteten Zusammenhalt" in der Stadt.
"Dafür stehen wir gemeinsam ein, und wir lassen uns nicht auseinanderdividieren", gibt sich der OB kämpferisch. Mannheim war, sei und bleibe Heimat für alle, die Anstand besäßen, Gesetze, Werte und Normen achteten.
Damit meint Specht insbesondere "die große Mehrheit" der Muslime. Sie sind zahlreich auf den Marktplatz gekommen. Eine Muslimin empfindet die Folgen des Attentats als zweiten 11. September. "Jetzt werden wir wieder vorverurteilt", fürchtet sie. Und klatscht, als der OB an die Anwesenden appelliert, von der Kundgebung ein Zeichen des respektvollen Umgangs miteinander auszusenden.
Ohne die AfD beim Namen zu nennen und auf ihre Veranstaltung am Sonntag auf dem Marktplatz einzugehen, bekräftigt Specht: "Wir fallen nicht darauf hinein, wenn nun Menschen den Messerangriff als vermeintliches Beispiel für gescheiterte Integration in Mannheim heranziehen." Klare Worte.

Im Gegensatz zu Specht sieht der ganz in Schwarz gekleidete Strobl in der Kundgebung keinen geeigneten Ort für politische Forderungen. Das Geschehene sei "traurig, traurig, traurig". Der Minister wendet sich direkt an die Eltern, zwei Geschwister und die Lebensgefährtin des am Sonntag um 17.03 Uhr verstorbenen Polizisten: "Wir können Ihren unendlichen Schmerz nicht lindern, aber wir sind in unseren Gedanken und Gebeten bei Ihnen."
Eine schöne und würdevolle Überleitung zum interreligiösen Friedensgebet, bei dem sich Vertreter sämtlicher Konfessionen abwechseln. Ein Imam zitiert aus dem Koran und kündigt dem afghanischen Angreifer auch eine Strafe jenseits der deutschen Rechtsprechung an: "Für diejenigen aber, die böse Taten erwerben, ist der Lohn einer bösen Tat ein Gleiches, und Erniedrigung wird sie bedecken – sie haben vor Allah nichts, das sie schützen könnte –, als ob ihre Gesichter von Stücken finsterer Nacht überdeckt wären." Da müssen Nicht-Muslime erst einmal schlucken.

Die Stille durchbricht lauter Applaus, als sich die Politprominenz, hochrangige Polizisten und Geistliche zwischen zwei Absperrungen den Weg zum Tatort bahnen. Vor dem Marktplatzbrunnen legen sie weiße Rosen ab. Ihren emotionalen Höhepunkt erreicht die Kundgebung, als diese eigentlich schon beendet ist. Ein Dienstfahrzeug bewegt sich ebenfalls auf den Brunnen zu, dahinter laufen tief erschütterte Polizisten, die um ihren Kollegen weinen. Im Spalier aufgereiht halten sie vor dem Blumenmeer eine Schweigeminute ab. Die Umstehenden klatschen. Wahrscheinlich nur ein schwacher Trost für die Beamtinnen und Beamten – aber auch ein weiteres starkes Symbol an diesem traurigen wie Trost spendenden Montagabend.