Messerattacke in Mannheim

Eine Stadt im Ausnahmezustand

Es gab Ausschreitungen am Rande einer Menschenkette. Befreite verstorbener Polizist Täter in "Chaosphase" versehentlich selbst?

03.06.2024 UPDATE: 03.06.2024 04:00 Uhr 4 Minuten, 17 Sekunden

Von Alexander Albrecht

Mannheim. Die Messerattacke auf dem Marktplatz wühlt Mannheim auf. Ein Polizist ist am Sonntag seinen schweren Verletzungen erlegen. Der Angreifer ist noch nicht vernehmungsfähig. Am Montagvormittag gab es in Mannheim auch eine Mahnwache.

> Täter lebte in Heppenheim: Es handelt sich nach Angaben der Behörden um einen 25-jährigen Afghanen, der seit 2014 in Deutschland wohnt. Zuletzt lebte der verheiratete Mann mit seiner Frau und den beiden Kindern in Heppenheim, rund 30 Kilometer von Mannheim entfernt.

Bis zum späten Freitagabend durchsuchten Ermittler und Spezialkräfte die Wohnung der Familie in einem Hochhaus. Dabei seien elektronische Datenträger sichergestellt worden, die nun ausgewertet werden. Polizeilich war der Attentäter vor dem Angriff am Freitag ein unbeschriebenes Blatt. Befragt werden konnte er von den Beamten bislang nicht, er befände sich im Krankenhaus und sei noch nicht vernehmungsfähig, hieß es.

Der 25-Jährige war nach dem Messerangriff auf einen Polizisten durch den Schuss eines Beamten niedergestreckt worden. Das Amtsgericht Karlsruhe erließ am Samstag Haftbefehl gegen ihn.

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> Polizist ist tot: Das Landeskriminalamt in Stuttgart meldete am frühen Sonntagabend, dass ein 29-jähriger Beamter nachmittags an den Folgen seiner schweren Verletzungen verstorben sei. Der Angreifer hatte ihm am Freitag hinterrücks mit einem Kampfmesser zwei Mal in die Nacken- und Kopfgegend gestochen. Er war unmittelbar nach der Tat notoperiert und in ein künstliches Koma versetzt worden, aus dem der Polizist nicht mehr erwachte.

Bei den fünf verletzten Überlebenden handelt es sich laut Staatsanwaltschaft Karlsruhe und dem Landeskriminalamt (LKA) in Stuttgart um fünf Männer im Alter von 25, 36, 42, 54 und 59 Jahren, nach einer Meldung vom Freitag Angehörige der islamkritischen Bürgerbewegung "Pax Europa". Einer ist Deutsch-Kasache, ein zweiter irakischer Staatsbürger.

Die drei anderen haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Auch der 54-Jährige hatte sich lebensbedrohliche Verletzungen zugezogen, befindet sich aber nicht mehr in einem kritischen Zustand.

Der Jüngste konnte das Krankenhaus zwischenzeitlich wieder verlassen, die anderen Opfer befanden sich in stationärer Behandlung. Allen Verletzten und ihren Angehörigen stehen der psychologische Dienst des Landeskriminalamts zur Verfügung. Es ist zudem der Opferbeauftragte der Landesregierung, Alexander Schwarz, mit eingebunden.

> Alles deutet auf ein politisches Motiv hin: Offiziell sind die Beweggründe des Täters noch offen. Der älteste Geschädigte ist Michael Stürzenberger. Wie auf dem Video zu sehen ist und die "Pax Europa" informiert, hatte der Attentäter ihm Stichverletzungen am Gesicht und Bein zugefügt. Der bayerische Verfassungsschutz stuft Stürzenberger als islamfeindlich ein.

In den Sozialen Medien verbreitet er öffentlichkeitswirksam Videos von Veranstaltungen, in denen er sich mit Muslimen anlegt. Die Behörden leiten aus seinen Äußerungen eine "grundsätzliche Ablehnung der islamischen Religion" ab. Stürzenberger setze den Islam mit Terrorismus gleich.

Dass die Ermittler die Daten von elektronischen Geräten des Täters analysieren und der Attentäter – so macht es auf dem Video den Eindruck – zumindest die ersten Stiche gezielt gesetzt hatte, spricht für eine geplante Attacke. Diese könnte nichts zu tun haben mit den regelmäßigen Kundgebungen und Demonstrationen der Palästinenserinitiative "Free Palestine", die mit teils judenfeindlichen Parolen aufgefallen war.

Der Attentäter hat einen Rauschebart, wie ihn zum Beispiel radikalislamistische Salafisten tragen. Abgesehen davon ist ein Stand von "Pax Europa" auf dem Marktplatz schon per se eine Provokation, ist das Viertel drumherum – im Volksmund "Klein-Istanbul" genannt – muslimisch geprägt.

> Zweiter Clip aufgetaucht: Auf der Plattform X kursiert inzwischen ein zweites Video des Angriffs. Zu sehen ist, wie zwei Männer den Täter bereits am Boden festhielten. Dann kommt ein weiterer Mann mit blauer Jacke hinzu und fängt an, auf einen der beiden einzuschlagen. Auf diesen stürzt sich dann der später verstorbene Polizist. Dadurch konnte sich der Täter befreien und auf den Beamten einstechen.

Zwei langjährige Ermittler haben die Videos gesehen. Einer sagte der RNZ, in der sogenannten Chaosphase sei den Einsatzkräften häufig nicht klar, wer Freund und Feind ist. "Sie müssen innerhalb von Sekunden entscheiden, wer Opfer und Täter ist."

Das erklärt, warum der Beamte sich nicht direkt den Angreifer vornahm. Sein Kollege, der den Schuss auf den Täter abgab, hätte nicht den Bruchteil einer Sekunde früher schießen können, so der andere Ermittler. "Er hat entsprechend seinem Training mit beiden Händen in der Vorhalte grob über die Pistole visiert und erst dann abgedrückt, als der Abstand zu seinem Kollegen nicht mehr eng war."

Bei allem Drama sei es ein glücklicher Umstand gewesen, dass der Täter das große Messer erkennbar mit weitem Ausholen geschwungen habe. "Dadurch konnte der Polizeischütze den Angriff einwandfrei wahrnehmen und die Nothilfelage einschätzen." Bei einer kleineren Waffe wäre die Situation unübersichtlich gewesen.

Rund 800 Menschen haben am Sonntagnachmittag überwiegend friedlich gegen eine Mahnwache von Rechtsextremisten auf dem Marktplatz demonstriert. Die Verunsicherung bei den Mannheimern ist seit der Attacke spürbar. Foto: alb

> Hitzige Atmosphäre bei Demonstration: Rund 800 Teilnehmer haben nach Angaben der Organisatoren am Sonntagnachmittag eine Menschenkette entlang der Breiten Straße gebildet und gegen eine Kundgebung der AfD und ihrer Jugendorganisation auf dem gegenüberliegenden Marktplatz demonstriert. Die Stimmung unter den Protestierenden, darunter Alt-OB Peter Kurz (SPD), war zunächst friedlich, auch weil Mitveranstalter Gerhard Fontagnier moderate Töne anschlug.

Der Grünen-Stadtrat betonte zwar, dass er die Auffassungen von Michael Stürzenberger nicht teile. "In Mannheim muss aber jeder seine Meinung äußern dürfen, ohne dass jemand mit einem Messer herumfuchtelt und auf einen einsticht."

Kurz nach Beginn der AfD-Mahnwache schlug die Stimmung um: Rund 20 Angehörige der Antifa zündeten ein Bengalo und versuchten, auf den Marktplatz zu stürmen. Die Polizei konnte die Gruppe jedoch schnell stoppen und einkreisen. Die Aktivisten brüllten die Beamten unter anderem an: "An Euren Händen klebt Blut."

Die Gegendemonstranten riefen "Nazis raus" oder "Ganz Mannheim hasst die AfD". Die Ordner hatten in diesen Minuten alle Mühe, die Situation unter Kontrolle zu halten. Zwei Straßenbahnen und die am Marktplatz aufgereihten Polizisten machten ein Aufeinandertreffen der beiden Lager unmöglich. Zu diesem Zeitpunkt war des Tod des Beamten noch nicht bekannt.

> Abscheulicher Mordaufruf: Es kursiert ein Video, das die Tat verherrlicht. Es ruft zum Mord an Ex-Muslimen und Islam-Kritikern auf. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kritisierte das Video scharf: "Den mörderischen Messerangriff zu verherrlichen, ist widerwärtig und menschenverachtend." Landesinnenminister Thomas Strobl (CDU) nannte die Aussagen "abscheulich, niederträchtig und ekelerregend."

Anteilnahme: Passanten legten Blumen, Kerzen und kleine Transparente mit Genesungswünschen für die Verletzten am Marktplatzbrunnen ab. Foto: Leder

> Kundgebung mit Friedensgebet: Unter dem Motto "Mannheim hält zusammen" ruft ein breit getragenes Bündnis für diesen Montag um 17 Uhr zur Teilnahme auf dem Markplatz auf. Man wolle dem Entsetzen und der Trauer über das Geschehene Ausdruck verleihen, heißt es in einer Ankündigung der Stadt. Rathausspitze, Gemeinderatsfraktionen und Religionsgemeinschaften möchten ein Zeichen für den gemeinsam getragenen Wunsch nach Zusammenhalt setzen.

Im Anschluss an eine Rede von Oberbürgermeister Christian Specht wird es ein interreligiöses Friedensgebet geben. Der CDU-Politiker hat am Samstagmorgen den Wochenmarkt besucht, mit Besuchen und Händlern gesprochen. "Man spürte die Verängstigung und die Verunsicherung", sagte Specht danach in einem Videobeitrag. Es sei ihm wichtig gewesen, "Präsenz zu zeigen und das Feld nicht anderen zu überlassen". 

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