"Eine lebendige Innenstadt muss zum Einkaufen und zum Wohnen attraktiv sein"
Die 100-Tage-Bilanz: OB Christian Specht im RNZ-Interview über waffenfreie Quadrate, die Verkehrswende, die Klinikfusion und Verwaltungspannen.



Von Alexander Albrecht und Olivia Kaiser
Mannheim. Seit mehr als 100 Tagen ist Oberbürgermeister Christian Specht (CDU) im Amt – Zeit, um mit dem 57-Jährigen eine erste Bilanz zu ziehen.
Herr Specht, Sie haben sich für unser Gespräch das C-Hub im Jungbusch ausgesucht warum?
Es ist schön, mal wieder aus dem Rathaus rauszukommen (lacht). Das C-Hub steht für den Aufbruch in Mannheim, für die kreative Startup-Szene, die hier gebündelt ist. Aber man sieht hier auch gut die Nutzungskonflikte in unserer Stadt, zum Beispiel den Hafen, der eine wichtige Funktion für Mannheim und das weite Umland hat, die Wohnbebauung, die Popakademie und den Musikpark, den wir zum Green-Tech-Zentrum umgestalten wollen. Hier in der Hafenstraße ist das dynamische Mannheim hautnah und konzentriert erlebbar.
Ihrem Vorgänger waren ja die Start-up-Unternehmen und die Transformation der Wirtschaft ein großes Anliegen. Sehen Sie sich da in einer Kontinuität?
Auf jeden Fall. Die Start-up-Szene ist mir sehr wichtig, daher bin ich auch Aufsichtsratschef von Next Mannheim, wo unsere acht Gründungszentren gebündelt sind. Da gibt es hoch spannende und erfolgversprechende junge Unternehmen in so unterschiedlichen Branchen wie Kreativ- und Musikwirtschaft, IT und Künstliche Intelligenz oder Medizintechnologie. Wir sind gerade dabei, unsere Existenzgründerstrategie zu erweitern um das große Zukunftsfeld der Grünen Technologie.
Sie hatten vor der Wahl gesagt, dass Sie als OB gleich loslegen können. Hat das geklappt?
Ja, ich bin gleich an meinem ersten Tag zur Baustelle des Nationaltheaters geeilt. Da gab es schon den einen oder anderen Entscheidungsbedarf für Dinge, die man in der Bauphase noch optimieren kann, zum Beispiel beim Kostencontrolling. Dann war ich im Notfallzentrum für Kinder im Uniklinikum. Dort gibt es jetzt einen Computertomographen mit besonders geringer Strahlenbelastung, der so schnell ist, dass man die Kinder nicht mehr sedieren muss. Weiter ging es mit der neuen Kita auf dem Luzenberg mit einer psychosozialen Betreuung. Das ist ein tolles Konzept.
Als Erster Bürgermeister hatten Sie bereits ein enormes Arbeitspensum. Es fällt auf, wie viele Termine Sie als OB wahrnehmen. Manch einer fragt sich, wie lange Sie das durchhalten wollen.
Mir ist es wichtig, direkt mit Bürgerinnen und Bürgern zu sprechen und mich um ihre Anliegen zu kümmern. Ich will eine Stadtverwaltung, die für Bürger, Vereine und die Wirtschaft da ist – und das geht nur, wenn man auch vor Ort präsent ist.
Sie haben bei Ihrer Antrittsrede gesagt, dass Ihnen die Innenstadt Sorgen bereitet. Wie haben Sie das gemeint?
Die Innenstadt hat nach wie vor eine große Magnetwirkung – so wie beim dritten verkaufsoffenen Sonntag mit tollen Zusatzangeboten, verschiedenen Märkten und einem kostenlosen öffentlichen Nahverkehr.
Aber?
Es zeichnet sich ein großer Strukturwandel im deutschen Einzelhandel ab. Beratungshäuser sagen, dass derzeit durch Kaufzurückhaltung und die Folgen von Corona und des Ukraine-Kriegs rund ein Drittel der Handelsflächen in Frage steht. Diesem deutschlandweiten Trend kann man nicht mit einfachen Einzelmaßnahmen begegnen. Daher setze ich sehr auf das vom Bund geförderte Projekt FutuRaum. Damit schaffen wir eine Plattform für Beteiligung und Austausch, um eine nachhaltige und lebenswerte Stadt von morgen zu entwickeln. Wir wollen zum Beispiel durch unterschiedliche Kulturangebote, vielfältige Gastronomie, vielleicht durch Start-ups im Einzelhandel und Pop-up-Stores die Attraktivität hoch halten. Die Innenstadt ist aber auch Wohnstadt. Darum wollen wir auch für Bewohner eine hohe Aufenthaltsqualität sichern, gepaart mit mehr Grün in den Quadraten. Wir haben insgesamt zu viel Asphalt, der sich im Sommer stark aufheizt. Wir wollen mehr Schattenplätze und den Verkehr an geeigneten Stellen beruhigen. Vor diesen Herausforderungen stehen ganz viele Städte, aber Mannheim in besonderem Maße.
Ist es da nicht kontraproduktiv, wenn der Einzelhandel eine Entscheidung darüber fordert, ob man nun eine Einkaufsstadt oder eine Wohnstadt sein will?
Eine lebendige Innenstadt muss sowohl zum Einkaufen als auch zum Wohnen attraktiv sein, sie muss kulturelle und gastronomische Angebote machen, aber auch zum einfachen Verweilen einladen. Mannheim hat eine gute Chance, das zu schaffen. Wir sehen, dass gemischt genutzte Gebäude in Zukunft eine größere Rolle spielen werden. Hier wollen wir die Potenziale der Innenstadt als Wohnstadt nutzen. Denken Sie zum Beispiel an Dachterrassen oder die Begrünung von Innenhöfen. Wir brauchen nicht nur die Menschen von außen, sondern auch die eigene Bevölkerung als Kunden der Innenstadtgeschäfte. Andererseits ist klar, dass wir immer dafür sorgen müssen, dass die Innenstadt trotz der Baustellen, zum Beispiel auf den Hochstraßen in Ludwigshafen oder der B 38 immer gut erreichbar ist. Das gilt insbesondere für Menschen, die nicht mit S-Bahn, Bus oder Fahrrad zu uns kommen können. Als größte Stadt der Metropolregion mit einem Einzugsgebiet bis in die Vorderpfalz, Südhessen und den Neckar-Odenwald-Kreis haben wir eine Versorgungsfunktion deutlich über unsere 320.000 Einwohner hinaus. Deshalb ist die Erreichbarkeit so wichtig – darum werden wir uns kümmern.
Beim Verkehrsversuch waren Teile der Kunststraße und der Fressgasse für die reine Durchfahrt gesperrt. Wie geht es weiter?
Man darf die Verkehrsberuhigung nicht isoliert betrachten, das hat der gescheiterte Verkehrsversuch deutlich gezeigt. Verkehrsberuhigung ist wichtig für die Aufenthaltsqualität, kann aber nur als Ergebnis aus einem Prozess gelingen, an dem alle Betroffenen beteiligt sind. Es ist wichtig, die einzelnen Stränge zusammenzubinden und einen haltbaren Knoten zu formen.
Und wie wollen Sie das machen?
Wir sind dabei, die Erkenntnisse aus dem Verkehrsversuch und dem FutuRaum zu bündeln. Eine große Rolle für die Innenstadt spielen auch die Eigentümer. Sie stehen vor der Frage, was mit ihren Immobilien in den nächsten Jahren geschieht, wenn weniger Verkaufsflächen gebraucht werden, weil Geschäfte aufgeben oder sich verkleinern. Wir wollen mit ihnen eine gemeinsame Vision entwickeln, damit langfristig die hohe Wertigkeit der Innenstadt erhalten bleibt. Aktuell haben wir die "City Factory" gestartet, in der wir alle Interessengruppen der Innenstadt an einen Tisch bringen – zum Beispiel die Anwohner, Handel und Gewerbe, Kultur, aber auch Angestellte. So wollen wir gemeinsam neue Ansätze für Probleme finden, die eine Gruppe alleine nicht lösen könnte.
Laut einer Umfrage der IHK meiden Menschen aus dem Umland die Innenstadt, weil sie ihnen zu dreckig ist oder sie sich nachts dort nicht wohlfühlen. Wie wollen Sie das ändern?
Interessant ist, dass in der Umfrage vor allem die Menschen die Aufenthaltsqualität und Sauberkeit kritisieren, die gar nicht oder sehr selten die Innenstadt besuchen. Da ist es natürlich sehr schwierig, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Wir begegnen dieser Wahrnehmung aber mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen: Zum Beispiel verstärken wir die Stadtreinigung in bestimmten Bereichen und führen "Mülldetektive" ein, die die Verursacher von Verschmutzungen ermitteln und zur Rechenschaft ziehen.
Sie haben im Frühjahr eine Waffenverbotszone noch mit dem Argument ausgeschlossen, bestimmte Bereiche würden dadurch stigmatisiert. Jetzt soll sie doch kommen und sehr großflächig. Warum die Kehrtwende?
Mannheim wird von den meisten Menschen als sichere Stadt wahrgenommen – das zeigen die Ergebnisse unserer regelmäßigen Sicherheitsbefragungen. Wir wollen, dass das so bleibt. Darum gehen wir mit der geplanten Waffen- und Messerverbotszone frühzeitig gegen Fälle mit Waffengewalt vor, die seit dem Frühjahr leider auch bei uns zugenommen haben. Dabei sprechen wir zum Glück von einer Zunahme auf niedrigem Niveau – von einem Fall mit Messer bis Mai auf insgesamt fünf oder sechs bis Oktober. Aber wir wollen den sich abzeichnenden Trend aufhalten, noch bevor er die objektive und subjektive Sicherheitslage beeinträchtigt. Das hat uns die Polizei empfohlen.
Mannheim soll als europäische Modellstadt bis 2030 klimaneutral werden – ist das überhaupt zu schaffen?
Ich stimme vollkommen mit meinem Vorgänger überein, der in seinem letzten Interview mit der RNZ kritisiert hat, dass EU, Bund und Land die ausgewählten Modellkommunen finanziell noch nicht ausreichend unterstützen. Das ist momentan besonders wichtig, weil die städtischen Haushalte in der aktuellen Konjunkturlage knapper werden. Wir tun dennoch alles, was in unserer Macht steht – ob Photovoltaik-Anlagen für 32 Millionen Euro auf städtischen Gebäuden oder der Klimaschutzfonds, den wir noch einmal auf 5,5 Millionen Euro pro Jahr erhöht haben. Wir treiben die kommunale Wärmeplanung voran und unterstützen die MVV auf ihrem Weg, die Stromnetze und die Fernwärme auszubauen. Wenn man sich aber vorstellt, dass es zwischen Mannheim und Heidelberg immer noch kein drittes und viertes Gleis für die S-Bahn gibt, dann kann das Land sein Ziel, die Zahl der Fahrgäste in den Bahnen zu verdoppeln, nicht erreichen. Die derzeitige Trasse ist jetzt schon ausgequetscht, es kommt zu Fahrtausfällen und Verspätungen, weil Güterzüge, der Fernverkehr und die S-Bahn sich die Gleise teilen müssen. Wir zahlen über den Verkehrsverbund bereits die Planungskosten für den Ausbau, die Infrastrukturausgaben können wir aber auf keinen Fall schultern.
Inzwischen haben die Gespräche mit dem Land über einen Verbund der Unikliniken Mannheim und Heidelberg begonnen. Wie ist der aktuelle Stand?
Ich denke, wir sind uns einig, dass wir mit dem geplanten Verbund einen gemeinsamen, europa- und weltweit sichtbaren Leuchtturm der Medizin in Heidelberg und Mannheim schaffen werden. Schon seit längerer Zeit laufen die notwendigen Prüfungen für dieses wichtige Vorhaben. Aktuell verzögern die ebenfalls notwendigen kartellrechtlichen Vorprüfungen das Projekt. Insgesamt sind noch einige grundsätzliche Fragen zu klären, zum Beispiel wie man beide Universitätskliniken in einem Verbund zusammenführt. Aus Mannheimer Sicht ist uns neben einem abgestimmten Medizinkonzept für die Gesundheitsversorgung auch die Ausbildung von Medizinern am Standort ebenso wichtig wie dem Land Baden-Württemberg. Wir sind dankbar für den vor kurzem von Gesundheitsminister Lucha übergebenen Förderbescheid für die Aufstockung der Apotheke und die weitere Planung der "Neuen Mitte". Das ist ein wichtiges und gutes Zeichen – auch an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Universitätsmedizin Mannheim. Es geht los!
Bleiben wir bei den Großprojekten. Sie haben sich vor der OB-Wahl mit Blick auf die Kosten skeptisch zum Bau einer neuen Stadtbibliothek und einer Multihallen-Sanierung gezeigt. Und nun?
Wir werden beide Projekte intensiv begleiten. An der Notwendigkeit der Stadtbibliothek besteht grundsätzlich kein Zweifel. Die Planung ist schon weit fortgeschritten, aber es gibt noch keine Finanzierung für das Projekt. Da muss man auch schauen, ob man noch was bei den Kosten machen kann. Die Multihalle ist eine offene Baustelle.
Sie steht also auf der Kippe?
Nein, es gibt ja Beschlüsse und Förderzusagen. Und es wird gebaut. Aber auch da müssen wir die Kosten prüfen.
Das Carl-Benz-Stadion – abreißen und anderswo neu bauen oder sanieren?
Aktuell geht es darum, das geplante Sanierungsgutachten um die Fragen der Sicherheit im Stadion und um das Stadion herum zu erweitern, um die tatsächlichen Kosten der bisher favorisierten Sanierungsvariante zu ermitteln. Wenn es vorliegt, wird sich zeigen, ob und wie man das Stadion überhaupt ertüchtigen kann und welche Konsequenzen die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen für den Umbau haben. Wenn es so kommt, wie manche befürchten, kommen wir auf eine derart hohe Summe, dass man einen Neubau sehr intensiv prüfen sollte.
Es gibt aber dafür bislang keinen geeigneten Standort.
Das ist in einer dicht bebauten Stadt ganz normal. Aber es stellt sich natürlich schon die Frage, ob es Sinn macht, wie in Karlsruhe 160 bis 170 Millionen Euro in die Sanierung eines alten Stadions zu investieren und was man dafür bekommt. Andererseits gibt es die Zusage von Sponsoren, sich beteiligen zu wollen.
Sie wollten das "eine oder andere" von der Buga retten, es gab auch viele neue Ideen für die Nachnutzung. Jetzt müssen wahrscheinlich bis zu 18 Hektar zum Schutz der Haubenlerche auf Spinelli umzäunt werden. Was ist da überhaupt noch möglich?
Das werden wir im direkten Dialog mit dem Regierungspräsidium klären, das die Artenschutzauflagen bei der Umwandlung der ehemaligen Spinelli-Kaserne in einen Grünzug gemacht hat.
Die Bundesgartenschau wusste schon 2021 von den Vorgaben des Regierungspräsidiums. Wie erklären Sie sich, dass weder der damalige OB Peter Kurz noch Sie als Erster Bürgermeister darüber sofort informiert wurden?
2021 war für die Bundesgartenschau eine heiße Zeit. Die Buga musste ja pünktlich fertig werden, obwohl das Gelände erst 2021 – und damit mehr als zwei Jahre zu spät – übergeben wurde. Möglicherweise haben in dieser Situation Mitarbeiter der Bundesgartenschau die detaillierten Artenschutzvorgaben des Regierungspräsidiums zu unkritisch einfach übernommen, ohne ihre Vorgesetzten zu informieren. Als Erster Bürgermeister war ich nicht für die Bundesgartenschaugesellschaft verantwortlich. Als Oberbürgermeister habe ich mir einen Überblick darüber verschafft, welche Einschränkungen es für die künftige Nutzung des ehemaligen Buga-Geländes gibt. Als dieser Überblick vorlag, habe ich sofort den Gemeinderat darüber informiert. Jetzt habe ich meine Bürgermeister-Kollegin Diana Pretzell damit beauftragt, mit dem Regierungspräsidium Karlsruhe über die konkrete Ausgestaltung der Auflagen zu sprechen. Über die Ergebnisse ihrer Gespräche wird sie dann ebenfalls den Gemeinderat informieren.
Es ist nicht die einzige Panne in der Verwaltung. Beim Fahrlachtunnel haben die beteiligten Ämter nebeneinander her statt zusammen gearbeitet, eine Richtlinie des Bundes wurde jahrelang kaum beachtet. Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Bei der Aufarbeitung der Akten wurde offensichtlich, dass nicht geklärt war, wer letzten Endes für den Fahrlachtunnel insgesamt verantwortlich war. Daraus haben wir gelernt. Jetzt gibt es einen sogenannten Tunnelmanager, der die fachbereichsübergreifende Verantwortung für den gesamten Fahrlachtunnel wahrnimmt. Er verantwortet alle betrieblichen, technischen und baulichen Aspekte des Tunnels sowie die Planung und Durchführung von Unterhaltungsmaßnahmen. Damit wird dieses sehr komplexe und wichtige Bauwerk jetzt umfassend aus einer Hand betreut.
Mannheim hat wie andere Städte große Probleme, Asylbewerber unterzubringen, auf Hallen und Zelte wollen Sie künftig bei der Unterbringung verzichten. Gleichzeitig hat die Stadt genug damit zu tun, Tausende Zuwanderer aus Südosteuropa zu integrieren. Schafft Mannheim das?
Der Zustrom von Flüchtlingen ist eine bundesweite Herausforderung – da ist Mannheim natürlich keine Ausnahme. Einige Teile der Verwaltung arbeiten schon länger am Limit, zum Beispiel die Ausländerbehörde oder der Fachbereich Arbeit und Soziales. Den Mitarbeitenden dort gilt mein großer Dank. Sie brauchen aber dringend mehr Hilfe bei der Unterbringung und Betreuung von Geflüchteten. Dazu gehören vor allem beschleunigte Verfahren, eine Vereinfachung von Regeln und eine auskömmliche finanzielle Unterstützung für diese wichtige Aufgabe. Mannheim hat sich in der Vergangenheit bei der Aufnahme und Integration von Geflüchteten stark engagiert und langfristig gesehen als Stadt davon profitiert. Ich bin zuversichtlich, dass wir auch die aktuelle Herausforderung mit Unterstützung von Bund und Land gemeinsam erfolgreich meistern werden.




